Gastkommentar

Erleben wir gerade einen Umbruch?

Österreich wurde zur Wahldemokratie herabgestuft. Solche Tendenzen nehmen auch anderswo zu.

Der Autor

Stefan Haderer (* 1983) ist Kulturanthropologe u. Politologe mit Spezialisierung auf int. Friedens- u. Konfliktforschung in Wien.

Die politischen Reaktionen hielten sich in Grenzen, als das „Varieties of Democracy“-Institut Österreich vom Status einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie herabstufte. Schon 2018 stellte Civicus Monitor, eine Plattform zur Erforschung der Zivilgesellschaft, unserem Land ein schlechtes Zeugnis aus. Auch die Präsidentschaftswahl in Frankreich – von vielen als eine Volksentscheidung „zwischen Pest und Cholera“ wahrgenommen – zeigt eine höchst bedenkliche Entwicklung auf: Mehr als 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler in der Altersgruppe von 18 bis 24 boykottierten die Wahl oder ließen sie an sich vorübergehen, weil sie die repräsentative Demokratie in Europa zunehmend als Trugbild wahrnehmen. Erleben wir gerade einen demokratischen Umbruch? Der Umgang mit Krisen, vor allem während der Coronapandemie, bestärkt Kritiker in dieser Wahrnehmung.

Das Vertrauen darauf, dass westliche Regierungen Grundrechte wahren und sich für mehr Mitbestimmung einsetzen, schwand lang vor den Lockdowns, der Einführung der Coronamaßnahmen, den Chat-Skandalen und der Ibiza-Affäre. Man denke nur an den bizarren Kompromiss zwischen ÖVP und FPÖ, was die Anzahl der Unterschriften bei einem Volksbegehren für eine verbindliche Volksbefragung betrifft: Während die FPÖ 150.000 und die ÖVP 640.000 Unterschriften als Schwelle festlegten, einigten sie sich auf 900.000. Die Mitsprache von Bürgerinnen und Bürgern hat keine Priorität für eine Volksvertretung, die sich elitär gibt. Einschneidende Eingriffe in den Alltag der Menschen nehmen Regierungen selbst dann in Kauf, wenn gesellschaftliche Polarisierung und Gewalt die Folge sind und rechtliche Gutachten auf sich warten lassen.

Die Hoffnung auf eine inklusive Demokratie, die Kritikern ausreichend Freiraum gewährt und einen offen ausgetragenen Diskurs zulässt, verblasst. Verantwortlich dafür sind nicht nur konservative und rechtspopulistische Kräfte, sondern auch liberale und linksgerichtete Parteien. Die pauschale Verurteilung von Menschen, die gewisse Coronamaßnahmen hinterfragen („Schwurbler“) oder die gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und eine EU- und Nato-Erweiterung sind („Putin-Versteher“), wird dem Bild einer Demokratie mit offenem Diskurs jedenfalls nicht gerecht.

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