Man muss schon einigermaßen wohlhabend sein, um als Flugreisender ein schlechtes Gewissen haben zu können.
Neue Achtsamkeit

Robert Pfaller: Schämt euch gefälligst!

Die Scham steht gegenwärtig so sehr im Rampenlicht, weil sie ein Luxusartikel geworden ist, ein Distinktionsgut. Sie schmückt jene Menschen, die sich so etwas Kostbares leisten können und sich dadurch als etwas Besseres zu erkennen geben möchten.

Der Titel von Léon Wurmsers großer Studie „Die Masken der Scham“ bezeichnet eine scharfsinnige Erkenntnis: nämlich dass die Scham sich – wie es ihrem schamhaften Wesen entspricht – oft unter anderen Gestalten versteckt, die ihr als Maske dienen: So erscheint sie zum Beispiel als Kälte, Arroganz, Angeberei, Exhibitionismus oder auch Aggression. Wurmsers Erkenntnis hat wohl die Tür aufgestoßen zur Einsicht, wie oft die Scham im Alltagsleben anzutreffen ist und welche bedeutende Rolle sie darin spielt. So ist mit etwas Verspätung in den letzten Jahrzehnten, in der Nachfolge von Wurmsers Entdeckung und nach merkwürdig langem Schweigen der Theorie, eine umfangreiche Forschung und Literatur zum Thema entstanden.

Wurmsers Titel kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gelesen werden – im Sinn des „genitivus subiectivus“. Denn die Scham wird nicht nur oft von etwas anderem maskiert; sie ist vielmehr mitunter auch selbst eine Maske für etwas anderes. Dies ist die Gestalt, in der wir sie gegenwärtig vorwiegend beobachten können: als eine Maske, hinter der sich zum Beispiel ein gewisser Stolz verbirgt. Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche. Die Scham steht offenbar auch deshalb gegenwärtig so sehr im Rampenlicht, weil sie ein Luxusartikel geworden ist, ein Distinktionsgut. Sie schmückt jene Menschen, die sich so etwas Kostbares leisten können und sich dadurch als etwas Besseres zu erkennen geben möchten. Schließlich muss man schon einiges besitzen, um „Flugscham“ empfinden zu können – im Vergleich etwa zu jenen nicht wenigen, die in ihrem Leben überhaupt noch nie in einem Flugzeug gereist sind. Auch „Autoscham“ ist nur für jene Menschen erschwinglich, die so wohnen, dass sie leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad ihre lebenswichtigen Wege erledigen können; ein Vorteil, über den die meisten ländlichen Pendler oder Bewohner von urbanen Außenbezirken leider nicht verfügen.

Die meisten aktuellen Formen von Scham, die in neuen Wortschöpfungen wie den eingangs genannten ihren Ausdruck finden, gehören zu diesem Typus eines – oft recht dünn – maskierten Stolzes. Auch in dieser Oberflächengestalt aber lohnt die Scham eine eingehendere Betrachtung.

Denn auch sie liefert wertvolle Hinweise über das, was die Scham ausmacht und was von vielen bedeutenden Theorien regelmäßig verkannt wurde. Zwei große Irrtümer, deren Folgen immer gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen erfasst haben, sollen hier beleuchtet werden: (1) der Irrtum vom angeblich „außengeleiteten“ Charakter der Scham (im Gegensatz zur „innengeleiteten“ Schuld) sowie (2) der Irrtum, die Scham bestünde in einer vom Über-Ich ausgeübten Bestrafung des Ich für dessen Verfehlen eines Ideals. Bevor diese beiden Irrtümer dargestellt und kritisiert werden, soll ein kurzer Parcours die aktuellen, für die Gegenwart charakteristischen Gestalten der Scham veranschaulichen. Dabei sollen erste Indizien gesammelt werden, die bei der Aufhebung der beiden genannten, bis heute wirkmächtigen Irrtümer hilfreich sein könnten.

Ein großer Teil aktueller schamhafter Regungen bezieht sich auf das Gefühl, zu viel oder das Falsche zu konsumieren. Viele „less-is-more“-Initiativen lehren die Angehörigen oberer urbaner Mittelschichten, dass man, sofern man über gute Informationen und ein dichtes Netz an Sozialkontakten verfügt, viele Dinge, darunter auch Geld, nicht mehr im üblichen Ausmaß zu besitzen braucht – zum Beispiel, weil man sich den Besitz einer selten gebrauchten Bohrmaschine ja teilen, weil man manche benötigte Leistungen wie Massieren gegen andere Leistungen wie Spanischlernen tauschen, oder weil man benötigte Gebrauchsgegenstände wie Taschen oder Kleinmöbel durch „Upcycling“ von Abfallmaterialien herstellen kann. Mit viel Hightech, guter Vernetzung und hochqualifiziertem Erfindungsgeist ermöglichen manche Kreativberufler sich derart ein Bild einfachen Lebens. Immerhin geben sie damit zu denken. Denn sie eröffnen auf diese Weise nicht zuletzt auch eine gewisse Perspektive auf ihre vermeintlichen Vorgänger in der Antike – wie etwa den legendären kynischen Philosophen Diogenes von Sinope, der im Fass gewohnt, ja sogar noch seine Trinkschale weggeworfen haben soll, als er einen Hirtenjungen aus der hohlen Hand trinken sah. Vielleicht waren ja schon die antiken Kyniker, die den Namen ihrer Schule von den Hunden bezogen, die sie sich zum Vorbild eines schlichten, scham- und vorurteilsbefreiten Lebens nahmen, nicht ganz so mittellos, wie sie ihre Umgebung sowie die Nachwelt glauben machen wollten, sondern schwammen gleichsam geschickt an der Oberfläche eines sie umgebenden urbanen Wohlstandes. Andererseits jedoch deuten manche der überlieferten Äußerungen doch in eine andere Richtung. So zum Beispiel zwei, die Diogenes von Sinope zugeschrieben werden:
„Als er einst auf dem Markte Onanie trieb, sagte er: ,Könnte man doch den Bauch auch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‘“ sowie „Als man ihm vorrückte, daß er auf dem Markte gegessen habe, sagte er: ,Habe ich doch auf dem Markte auch gehungert.‘“

Solche Belege dokumentieren Erfahrungen der Entbehrung, die den meisten heutigen Hipster-Lebenskünstlern doch recht fremd geblieben sein dürften.

Der Impuls, im Gegensatz vielleicht noch zu der einer Mangelwirtschaft entstammenden Eltern- oder Großelterngeneration, den eigenen Konsum kritisch und schamhaft zu überdenken und ihn „postmaterialistisch“ einzuschränken, entstammt vor allem dem Programm der „mündigen Konsumenten“ oder „prosumers“, die darauf abzielten, durch bewussten Konsum auf die Herstellungsbedingungen von Produkten Einfluss zu nehmen.

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