Eine gottlose Sauerei

„Bestimmt ein böser Streich, oder ging da etwas nicht mit rechten Dingen zu? Geschah hier etwas Mysteriöses? Geisterwerk? Wurde die Ruhe der Toten gestört? Waren Leichenschänder unterwegs?“ Aus einem Roman in Arbeit.

Ich war immer auf Seiten der Sünder – und daher bin ich noch manchmal in der Sumpfinger Kirche beim Bild der Maria Magdalena gewesen, nur gebetet habe ich nicht mehr. Und spätestens seit ich am Wetterkrieg mitarbeitete, an der Entwicklung von Ionosphärenwaffen, um Gewitter, Regen oder Dürre herzustellen, hielt ich mich an den Satz der Großmutter, die ständig verkündet hatte:

– Das Beten überlassen ma die Kieha, de hab'n a breiteres Mäul wie mir.

Großmutter hatte ständig solche Sprüche auf den Lippen gehabt. Von ihr waren Sätze wie Es gibt keine schiachen Mannsbilder, nur zu wenig Alkohol oder Ich beiß dir ein Gewinde in den Arsch, damit du Schrauben scheißt zu hören. Von uns forderte sie immer Lernen! Lernen! Lernen bis zur Vergasung! Wobei dieses Vergasung eines ihrer Lieblingsworte war – auch wenn sie keinen Zusammenhang mit den verschwundenen Onkeln und Tanten herstellen konnte.

Als uneheliches Kind durfte sie nur durch den Seiteneingang in die Kirche, war Woche für Woche, jeden Sonntag, den Blicken der Dorfbewohner ausgesetzt, die auf Kinder der Sünde, wie sie eines war, mitleidig herabblickten. Dabei hätte gerade Oma, der als Kind ein Baumstamm über den Fuß gerollt war, und die seither offene, eitrige Wunden hatte, nur mit hohen Schnürstiefeln, so genannten Stützschuhen, gehen konnte, den Stützapparat des Glaubens gebraucht. Aber die Kirche hat sie durch den Seiteneingang beseitigt.

Oma hat Ersatzgötter gefunden, sich ihrePrivatreligion zurechtgebogen, russische Namen für die Kinder, Schnupftabak. Sie hat Kuhfladen gesammelt, weil die der beste Dungwaren, Galläpfel, Beeren, Pilze. Aus Quitten hat sie Gelee gemacht, aus Stachelbeeren und Ribiseln Marmelade, aus Birnen Most und aus Krautköpfen Unmengen an Sauerkraut. Über ihren in Stalinum gebliebenen Mann hat siestets gesagt: Den habe ich geliebt, der hat mich kaum geprügelt. Und als man irgendwann damit begann, auf Sommerzeit umzustellen, alle halben Jahre die Uhren um eine Stunde vor- oder zurückgestellt wurden, hat sie diese Uhrenverdrehungen immer schon um Wochen im Vorhinein vorweggenommen, um sich vorstellen zu können, wie es dann nach der Umstellung sein würde. So hat sie ständig in einer zeitlichen Parallelwelt gelebt.

Bald hat sie diese, ihre Vorumstellung nämlich dermaßen ausgereizt, dass sie immer ein halbes Jahr zu früh dran war, im Winter in der Sommerzeit lebte und mit dem Frühlingsbeginn nicht wie alle anderen auf Sommerzeit, sondern eben auf Winterzeit umstellte. So war es auf Omas Uhren im Winter immer eine Stunde später, während es im Sommer eine Stunde früher war, was dazu führte, dass man sich schnell um zwei Stunden vertun konnte, was auch ihr selbst öfter passierte.

Einmal wollte sie um zwei Uhr nachts Silvester feiern, weil sie dachte, es sei Mitternacht, ein andermal hat sie uns im Glauben, es wäre schon sechs, um vier Uhr früh aus dem Bett geholt. Und wie oft hat sie nicht schon um zehn Uhr abends mit dem Ruf „Sperrstunde!“ alle Gäste aus dem Saurüssel getrieben? Irgendwann einmal hat sie sogar steif und fest behauptet, die Benennung der Wochentage sei falsch, ein Mittwoch wäre eigentlich ein Montag, während ein Donnerstag ein Dienstag wäre, und so weiter. Man hätte sich bei der Benennung der Tage von Anfang an vertan, und auch die Reihenfolge stimme nicht, einem Dienstag müsse nämlich ein
Samstag folgen, während ein Sonntag auf einen Freitag käme, nur der Mittwoch bliebe in der Mitte. Nicht anders war es
mit den Monaten, bei denen ihrer Meinung nach dasselbe heillose Durcheinander herrschte.

Unsere Weihnachts- und Silvesterfeiern machte sie nur höflichkeitshalber mit, tatsächlich hatte sie immer Alternativdaten bereit, bestand auf ihre Weihnachtsfeier im Frühling oder ihr Ostern im August. Wenn am sechsten Januar die Heiligen Drei Könige, die meist zu viert ankamen, klingelten, um eine Spende für die Not der Welt zu erbitten, hat sie sie mit der Begründung, sie sollen doch am sechsten Januar nach ihrer Rechnung, also in 53 Tagen, wiederkommen, vertrieben. Ähnlich verfuhr sie mit Rauchfangkehrern, Stromablesern, Lieferanten und allen anderen, die etwas von ihr wollten. Nur beim Rente austragenden Briefträger drückte sie ein Auge zu.


– Du interessierst dichnicht für Politik, oder?

– Nicht besonders. Ich glaube nicht daran. Sagen doch alle dasselbe, egal von welcher Partei. Sätze wie Wir müssen die Herausforderungen annehmen. Wir werden das Beste geben. Lauter Nullsätze, wie sie auch Wirtschaftsmenschen sagen. Vor der Wahl Versprechungen... und nachher? Ich gehe auch nur selten wählen. Und wenn, dann schreibe ich quer über den Stimmzettel: Meine Stimme kriegt ihr nicht! Manchmal lege ich noch eine Benzinrechnung ins Kuvert.

Der Römer lachte:

– In Italien wird Politik von Familien gemacht. Alles systematisiert. Entweder bist du für oder gegen sie. Ein Neugeborenes legt man zwischen ein Messer und eine rohe, geschälte Zwiebel. Wenn das Kind zum Messer greift, kommt es später zur Familie. Greift es aber zur Zwiebel, wird es viel zu weinen geben, dann geht es zur Polizei.

– Bei uns, erwiderte ich, ist das Erste, was ein Neugeborenes zu Gesicht bekommt, die Hebamme. Und das Erste, was es lernt, ist das Wörtchen Nein. Ich hatte einen Freund, Rufus, der hat mit fünf Jahren geglaubt, sein Name sei Lassdasnein, weil er nie was anderes zu hören bekam. Rufus, lass das, Rufus, nein! Fast hätte ich dem Römer meine Hebammer-Erlebnisse erzählt, aber dann besann ich mich eines Besseren, sagte mir selbst Lass das! Nein! und erkundigte mich neuerlich nach unserem Ziel.

– Zum Kopf, war die verschmitzte Antwort.

– Kopf? Du meinst das Oberhaupt deiner Familie?

– Wirst gleich sehen, drückte mich der Römer in ein Haushaltswarengeschäft, das überquoll vor Stahltöpfen, Käsereiben, Kasserollen, Kochlöffeln, Putzschwämmen, Teflonpfannen, Lösungsmitteln, Farben, Gartenwerkzeugen, Lampen, Lumpen, Lappen... So etwas hatte es in Sumpfing früher auch gegeben, Kaufhaus Korischek, wo es alles gegeben hatte vom Strumpfbandhalter bis zum Fahrradschlauch, von Gmundner Keramik bis zum Meissner Porzellan, Teller mit tschechischem Zwiebelmuster, Augarten-Porzellan, Fondue-Töpfe, Gaskartuschen, Schnitzelklopfer, Kinderwägen, Heizdecken. Es gab nichts, das es beim alten Korischek nicht gegeben hätte. Sogar kleine Feuerwerksböller, die wir Kinder Piraten oder Ladycracker nannten und in Frösche, Meerschweinchen und Schildkröten steckten (Rufus!), hatte er gehabt. Schulsachen, Fußbälle, Modellbausätze. Der Korischek war das reinste Paradies. Ganz Sumpfing ging hier ein und aus, kaufte und hörte sich die politischen Reden vom Besitzer an. Der Korischek war zwar ein alter Nazi, wählte aber dennoch, weil es seinem Kaufmannsstand entsprach, die christlich bürgerliche Volkspartei und war besonders bei den Arbeitern beliebt, weil er anschreiben ließ, Rabatte gab und auch den Kindern, besonders den ärmeren, immer etwas schenkte, einen Lutscher aus Traubenzucker, Lakritzschlangen, Petz-Zuckerl oder Karamellbonbons der Marke Stollwerk. Aber irgendwann fuhren die Leute trotzdem lieber in die Stadt, wo sie zwar mit niemandem reden konnten, weder einen Preisnachlass noch Geschenke für die Kinder bekamen, ihnen niemand was erklärte, beim Einpacken half oder sonst wie zur Hand ging, einfach aus dem Grund, weil es dort billiger war. So nahmen sie eine eineinhalbstündige Fahrt in Kauf, weil irgendein archetypischer Sammlertrieb in ihnen durchbrach, sie der festen Überzeugung waren, in den neuen Einkaufszentren Geld zu sparen. Das Kaufhaus Korischek aber ging vor die Hunde, und der alte Besitzer musste schließen. Ein paar Jahre lang ist er noch stolz in seinem weißen Mantel durch den Ort spaziert, bald aber war er nur noch beim Kirchenwirt – als Angehöriger des Kaufmannsstandes fühlte er sich immer noch, selbst als Bankrotteur, den höheren Wesen (Lehrer, Pfarrer, Arzt) zugehörig – der Saurüssel war ihm zu minder, da hingen bei der Garderobe keine Bilder von den hier verkehrt habenden Halbprominenten wie im Kirchenwirt, wo schon einmal Udo Jürgens, Felix Dvorak, Rosemarie Isopp oder Paul Löwinger zu Gast gewesen waren. Persönlichkeiten, mit denen sich der alte Korischek auf einer Ebene wähnte. Schließlich war er davon überzeugt, dass sein Name, wenn auch tschechischen Ursprungs, nichts anderes als Der Korse bedeutete. Irgendwann aber muss ihm, dem stolzen Korsen, das Scheitern seines Lebenswerks zu Kopf gestiegen sein, erkrankte er und kam nicht wieder auf die Beine. Sein Kaufhaus verfiel. Bald waren die Auslagen mit Plakaten zugepflastert, die Fenster eingeschlagen, der kleine Parkplatz überwuchert. Heute sind, soviel ich weiß, dort Asylbewerber untergebracht. Auf der graublauen Frontwand aber hebt sich immer noch, auch wenn die Neonbuchstaben längst abgefallen oder heruntergerissen worden sind, der etwas hellere, von 30 Jahren Verkehr verschont gebliebene Schriftzug Kaufhaus Korischek hervor.


Mir ging es wie dem Totengräber Wastl, der wegen einer Namensgleichheit ein falsches Grab ausgehoben hatte. Das geschah während meiner Zeit als Sargträger.

Der zur Einsegnung bereite Leichenzug landete damals zur allgemeinen Verwunderung nicht wie erwartet an einem frisch geöffneten Grab, sondern an einem mit Unkraut und Blumen bewachsenen, das seit Jahren keiner angerührt hatte, woraufhin der cholerische Pfarrer gleich zu fluchen anfing, Himmelherrgott Sakrament brüllte und den Ministranten, die nun wirklich nichts dafür konnten, ein paar präventive Ohrfeigen verabreichte, man noch Stunden später die Abdrücke seiner hochwürdigen Würstelfinger auf den pausbäckigen präpubertären Kindsgesichtern sah.

Ich wurde losgeschickt, den Totengräber, Wastl Godschani-Semmelmeier hieß der, aus dem Wirtshaus mit dem sinnigen Namen Vernichterhaus zu holen, wo er in Vorfreude auf das Konduktessen schon mit dem Vernichten mehrerer Liter Bier begonnen hatte, sich bereits im Stadium fortgeschrittener Präilluminierung befand. Er hatte gerade eine frische Halbe (Ahoi-be) bestellt, als ich ihm vom geschlossenen Grab erzählte. Da ist ihm das Bier fast bei der Nase herausgekommen. Unmöglich! Er, der alte Illuminat, hatte doch, beteuerte er, das Grab erst am Morgen ausgehoben.

– Bestimmt ein böser Streich, oder ging da etwas nicht mit rechten Dingen zu?, falteteer seine groben Totengräberhände und sah beteuernd Richtung Himmel. Geschah hier etwas Mysteriöses? Geisterwerk? Wurde die Ruhe der Toten gestört? Waren Leichenschänder unterwegs? Der Totengräber war völlig durcheinander, glaubte an Verschwörung, übersinnliche Mächte – zur Beruhigung trank er einen Schnaps. Wie Mäuse in einem Krokodilsterrarium rannten seine Gedanken wild herum, suchten verzweifelt einen Ausweg. Immer wieder schwor er, das Grab gewiss ausgehoben zu haben, sogar seine mit Schwielen überzogenen Hände hielt er als Argumente in die Höhe. So etwas bildet man sich nicht ein, lamentierte er, so etwas kann nicht sein, ein böser Streich oder ein Zeichen Gottes? Vielleicht die Burschen von der Feuerwehr? Oder der Lebersorger? Der Wamperl? Der Gogola? Und schon begann er sie alle aufzuzählen, die er einer solchen frevlerischen Unverfrorenheit für fähig hielt. Niemanden ließ er aus. Die ganze Bevölkerung, die über kurz oder lang auf eben diesem Gottesacker landen würde, war zumindest nach der bescheidenen Meinung des Totengräbers Godschani-Semmelmeier einer solchen frevlerischen Schandtat fähig. Einfach das Grab wieder zumachen! Noch bevor der Tote drinnen ist. Eine gottlose Sauerei war das.

– Aber das Grab war gar nicht angerührt.

– Unmöglich. Das will ich sehen.

Am Friedhof klärte sich dann alles als Verwechslung auf, als Namensgleichheit. Da war der Wastl erst erleichtert, dann beschämt ob seiner haltlosen Verdächtigungen, schließlich aber verzweifelt, musste er doch stante pede ein neues Grab ausheben. Zu seinem Glück war wenigstens der Boden nicht gefroren. So schnell hatte der Godschani-Semmelmeier, der wirklich ein Schani, oder, wie die Deutschen sagen, Büttel Gottes war, in seinem ganzen Leben noch kein Grab ausgeschaufelt. Den Trauerzug schickte man inzwischen in das Vernichterhaus, weil beim Katafalk konnte man die Angehörigen, Freunde und Nachbarn des Toten ja nicht stehen lassen, noch dazu, wo gerade ein kalter Nieselregen einsetzte. Manche Trauergäste erboten sich, beim Grabschaufeln zu helfen, aber darauf ließ sich Wastl nicht ein.

– Ein Grab, sagte er, ist ein Meisterwerk. Da brauch ich keine Dilettanten. Also ließ man ihn allein mit dem Katafalk voller Kränze, dem Sarg, auf dem ein Bild des Toten stand, das durch den Regen feucht wurde und Wellen schlug. Und der Wastl schaufelte um sein Leben.

Zwei Stunden später wand sich eine stark angeheiterte, zum letzten Geleit formierte Trauergemeinde unter Lachkrämpfen, weil ich, ebenfalls schon feuchtfröhlich, auf einem nassen Pfosten ausrutschte, wild mit den Armen ruderte, und mein Kollege, Bayreuths Mann, ins Grab stürzte, den Sarg durchschlug, sich das Genick brach und dann friedlich auf dem Toten lag. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2010)

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