Damals schrieb die Neue Freie Presse

Bedürfnis des Gruselns

Wien, 9. Juli 1872. Der Statthalter von Egypten weilt Tagen in Konstantinopel, ist vom Sultan in Audienz empfangen und aufs wohlwollendste behandelt worden. So bedeutungslos an sich die Thatsache ist, so bedeutungsvoll erscheint sie als Signatur der Zeit. Kaum zwei Jahre sind seit den Tagen verflossen, in welchen unablässig der Welttheil durch Meldungen über Zerwürfnisse zwischen dem Sultan und seinem egyptischen Vasallen, über Rüstungen und Aushebungen am Nil, über Arbeiten in den türkischen Arsenalen beunruhigt wurde.

Nicht nur die Finanzleute, welchen das Bedürfnis des Gruselns innewohnt und die sich nöthigenfalls eine Gänsehaut aus dem Innern Australiens verschreiben – auch ernste politische Kreise konnten sich der Besorgnis vor der Wiederkehr der Zeiten Mehemed Ali's und Ibrahim Paschas nicht entschlagen. Das wußte Jeder, daß in dem wohllebigen Fellahquäler und Großlaufmanne Ismail Pascha kein Funke von der Seelenglut seiner Vorgänger im Statthalter-Amte leuchtete, und daß der Khedive lieber um die Gunst einer Pariser Soubrette, als um den Sieg auf den syrischen Schlachtfeldern ränge; aber gerade weil die ewige Aufsässigkeit und Säbelrasselei die so wenig den Neigungen des Khedive entsprach, erschien sie friedensgefährlich. Denn sie deutete auf eine fremde Macht hin, die den genuß- und gewinnsüchtigen Mann, dem nur Eitelkeit, kein Ehrgeiz gegeben ist, immer wieder aus seiner Behäbigkeit aufrüttelte und zu Herausforderungen der Pforte trieb.

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