Wiener Ansichten

Judenplatz: Wenn sich das Mittelalter bis ins Heute fortschreibt

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Eine lateinische Inschrift – und eine Gedenktafel, vier Häuser weiter: Nachrichten aus der Mitte Wiens.

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Zustände „wie im Mittelalter“, von denen ist ja bald einmal die Rede. Doch was hat man sich genau darunter vorzustellen? Und wie wirkt es womöglich bis ins Heute fort? Zumindest für Wien lässt sich seit Kurzem Jahr für Jahr erfahren, was sich zwischen frühem zwölftem Jahrhundert und erster Belagerung durch ein Osmanenheer, 1529, hierorts begeben hat: Peter Csendes und Ferdinand Opll, beide Historiker von Graden, haben bei Böhlau Zeitzeugnisse und Analysen zu „Wien im Mittelalter“ vorgelegt.
Da ist zum Beispiel vom schweren Frost die Rede, der im Mai 1322 die Weinberge im Wiener Umland heimgesucht habe, oder vom Dreifachmond, der knapp 200 Jahre später über der Stadt sichtbar gewesen sei. Unvermeidlich aber auch davon, was sich Anfang des 15. Jahrhunderts in Wien ereignet hat: Am 23. Mai 1420 befiehlt Herzog Albrecht V., alle Juden in Österreich ob und unter der Enns gefangen zu nehmen und des Landes zu verweisen, es sei denn, sie würden sich zum Christentum bekehren. Eine Anordnung, die in monate-, ja jahrelange Verfolgung und letztlich in Massenmord mündet: Im März 1421 lässt der Habsburger-Herzog mehr als 233 Jüdinnen und Juden auf einem Feld zu Erdberg in den Feuertod treiben.
Eine zeitgenössische Inschrift hält dazu im Ton rabiatesten Antisemitismus fest: „So rast die Flamme sich erhebend durch die ganze Stadt im Jahr 1421 und sühnt die grausamen Verbrechen der jüdischen Hunde.“ Wo dergleichen – freilich in lateinischer Sprache – geschrieben steht? Mitten in Wien, am Judenplatz 2, unter einem Relief, das Christi Taufe im Jordan zeigt. Eine erklärende Gedenktafel, gestiftet von der Erzdiözese, gibt es auch; die allerdings will erst gefunden sein. Nicht an nämlicher Adresse ist sie montiert, sondern erst vier Häuser weiter, am Judenplatz 6. Verstehe das, wer mag.

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