Expedition Europa

Die Deutsche Bahn: Woodstock mit Maskenpflicht

Man kann mit dem 9-Euro-Ticket der Deutschen Bahn von A nach B kommen. Ich bin der lebende Beweis.

Das 9-Euro-Ticket ist eine Sommeraktion der deutschen Regierung, mit der man einen Monat lang alle Öffis und Regionalzüge in ganz Deutschland benutzen kann, für neun Euro. Der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Verkehrsunternehmen rief zu Pfingsten aus: „Es ist ein regelrechtes Woodstock im öffentlichen Nahverkehr!“ Hätte ich dieses Woodstock mit Maskenpflicht verpasst, hätte ich mir das niemals verziehen.
Ich selbst nutzte das Ticket, um an ein Reiseziel in Rheinland-Pfalz und zwei Ziele in den Niederlanden zu kommen. Ich verbrachte dafür 25 Stunden an drei Tagen in neun deutschen Regionalzügen und zwei Bussen. Zusammenfassung: 1. Zum Wochenende hin tat ich gut daran, die Zeitreserve zum Umsteigen auf eine Stunde auszuweiten, andernfalls wäre ich gestrandet. 2. In den 25 Stunden hörte ich kein einziges Gespräch zu relevanten Themen mit. 3. Mir kam vor, ich wäre der einzige fremdländische 9-Euro-Reisende.

Ich schildere hier nur meinen ersten 9-Euro-Ticket-Tag, einen frühsommerlichen Mittwoch.

04.51 Aachen – 05:44 Köln. Ein schnittiger Stockzug, „Nationalexpress“, im Unterschied zu allen anderen mit WLAN gesegnet. Es begann beunruhigend, bereits im Morgengrauen blieb der Zug „unerwartet“ liegen. Durchsage: „Unser Zug hat wegen eines haltzeigenden Signals angehalten.“ Mir war bang, schon meinen ersten Anschluss zu verpassen. Die Bahnsteiganzeige auf dem Kölner Bahnhof war als ungültig durchgestrichen, das Gleis stimmte aber, die Zugnummer stimmte, die Abfahrtszeit stimmte, allein die Destination passte nicht. Einen Fuß auf dem Bahnsteig, den anderen im Zug, hatte ich Sekunden zu entscheiden. Ich sprang rein.

05:56 Köln – 08:33 Gau-Algesheim. Zwei gestandene Frühpendler tratschten: „Is' beim Zaunmalen gestolpert, und jetzt muss er acht Wochen mit 'ner Schiene laufen.“ Weitere Durchsagen verstärkten den Beklemmungszustand namens Deutsche Bahn: „Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind aus betrieblichen Gründen zum Halten gekommen.“ In Remagen wechselte ich den Waggon, saß nun erwiesenermaßen im richtigen Zug und wurde lockerer. Durchsage: „Hier in Weißenthurm bekommen wir eine Überholung, sodass sich unsere Weiterreise verzögern wird.“ Kurz danach eine laute dumpfmetallische Erschütterung – klare Sache, „aus betrieblichen Gründen zum Halten gekommen“. Reife Mitglieder eines Vereins, welche mit ihren Vor- und Nachnamen bedruckte T-Shirts trugen, zwitscherten Dosenbier und Alkopops. Durchsagen baten „bei diesem Halt“ zu beachten, „dass die Trittstufen nicht ausgefahren werden“ bzw. „dass die Distanz zwischen Trittstufe und Bahnsteig größer ist als gewöhnlich“. Da sich auch mein Anschlusszug verspätete, konnte ich im Bahnhofbistro zu Gau-Algesheim ein Espresso-Fertigcroissant-Frühstück nachholen.

08:44 Gau-Algesheim – 09:58 Idar-Oberstein. Zwei fesche Reli-Lehrer sprachen Schulchinesisch: „Mehrbedarf gemeldet an drei weiteren Abordnungsstunden.“ Erst jetzt, in meiner vierten 9-Euro-Ticket-Stunde, wies ein Tonband auf die Maskenpflicht hin.

17:07 Idar-Oberstein – 18:16 Gau-Algesheim. Die Rückfahrt fing schlecht an, zehn Minuten Verspätung, laut Bahnhofbeamtin konnten nur „zwei bis vier Minuten“ aufgeholt werden, zu wenig für meinen Anschluss. Sie druckte mir eine Alternativroute mit vier Umstiegen aus. Als sie mich aus der Tür wähnte, entschlüpfte ihr ein Fluch. Mein Zug fuhr mit der Leuchtschrift „Nicht einsteigen“ ein, Hunderte stiegen aus, ein paar Rotzbuben stiegen ein, und flaumbärtige Burschen auf dem Bahnsteig behaupteten: „Der Zug endet hier.“ Wieder ein Fuß auf dem Bahnsteig, der andere im Zug, ich sprang rein und bereute es nicht. Der Zug holte sechs Minuten auf, der Anschlusszug kam fünf Minuten zu spät, entspanntes Umsteigen.

18:24 Gau-Algesheim – 21:02 Köln. Am Abend kam die Sonne raus, es wurde voller. Eine deutsche Blondine sagte angesichts der Weinberge am Rhein: „Fuck, wie schön es hier ist! Meine Mutter sagt immer, mach mal Urlaub an der Mosel!“ Der Lokführer forderte mehrmals dazu auf, dass die „Fahrgäste, die in den Türen stehen, nicht auf die Lichtschranken zulaufen sollen“. Einmal schimpfte er: „Ich kann auch stehen bleiben. Ich hab Zeit. Ist meine Arbeitszeit.“ In Remagen verabschiedete er sich dann in aller Form. Ein deutscher Lokführer, der mit den Worten „Entschuldigen Sie den frechen Ton“ und „Ich gehe nach Hause“ einen schönen Abend wünscht – das war Woodstock at its best.

21:21 Köln – 23:22 Münster. In Wirklichkeit 23:45, dafür sexy junges Publikum bei einem nächtlichen Tangentialschnitt durchs räudige Ruhrgebiet. „Der vor uns liegende Streckenabschnitt ist durch einen anderen Zug belegt“, „aufgrund besetzter Gleise können wir noch nicht in den Bahnhof einfahren“ – bei der letzten Fahrt des Tages war mir das alles schon herzlich egal.

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