Culture Clash

Woke Stammesriten

Wie in jedem Winnetou-Abenteuer geht es auch heute um den Kampf der Guten gegen die Bösen. Aber die Frage, wer da wer ist, ist zur Glaubenssache geworden.

Mitte der 1980er-Jahre war ich dabei, als Georg Gaupp-Berghausen, ein früherer konservativer Influencer, von seinem neuen Leben in Mittelamerika erzählte, wo er mit den Indios Radioschulen aufbaute, um die indigene Kultur zu bewahren. Von Deutschen und Österreichern würde er dafür weit mehr Unterstützung erhalten als aus England, Frankreich oder den USA. Warum? „Weil wir Karl May gelesen haben.“

In der ideologischen Auseinandersetzung über die vom Ravensburger-Verlag zurückgezogene Winnetou-Fan-Fiction spielt das freilich keine Rolle. Da geht es um die Trennung der Guten von den Bösen. Kurioser Höhepunkt ist der Bericht der „Bild“-Zeitung, dass die ARD künftig keine Winnetou-Filme mehr ausstrahlen werde. Weil dem Sender aber ohnehin schon seit 2020 die Rechte dazu fehlen, erhebt sich nun die Frage, wer das jetzt zur woken Großtat hochstilisiert hat – die ARD selbst, um sich ins Lager der Guten zu stellen, oder die „Bild“, um sie unter die Bösen zu reihen? Und schon zu Beginn der Affäre stellte sich die Frage: Wenn der Verlag wirklich so woke ist, wie er durch das Einstampfen seiner Winnetou-Bücher zeigen will, wie konnte es dann dazu kommen, dass er sie überhaupt gedruckt hat? Entweder sind die Verantwortlichen dort im Herzen woke, aber ahnungslos – oder unwoke, aber feig.

Bekenntnisfragen dieser Art verweisen auf den quasireligiösen Charakter der Wokeness-Kultur. Der große australische Lyriker der Popkultur, Nick Cave, hat ihr vor einiger Zeit in Nr. 109 seiner „Red Hand Files“ die Barmherzigkeit gegenübergestellt: „Barmherzigkeit erkennt an, dass wir alle nicht perfekt sind, und gewährt uns damit den Sauerstoff zum Atmen – uns in einer Gesellschaft beschützt zu fühlen, gerade durch unsere gemeinsame Fehlerhaftigkeit . . . Ohne Barmherzigkeit wird eine Gesellschaft unflexibel, ängstlich, rachsüchtig und humorlos. In meinen Augen ist die Cancel Culture die Antithese zur Barmherzigkeit. Politische Korrektheit ist zur freudlosesten Religion der Welt geworden. Ihr einst ehrenhafter Versuch, die Gesellschaft neu und gerechter wahrzunehmen, beinhaltet nun die schlimmsten möglichen Merkmale von Religion (und keine ihrer Schönheiten) – moralische Gewissheit und Selbstgerechtigkeit, minus der Kraft zur Erlösung. Sie ist buchstäblich zu einer schlechten Religion geworden, die Amok läuft.“

Dass diese Religion einen Verlag dazu bringt, sich für sein Buch bis zum Einstampfen zu genieren, beunruhigt mich dabei weniger als die Idee, dass sie einmal Staatsreligion werden könnte. Hugh, ich habe gesprochen.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2022)

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