Lenzing 1938: Die größte Industrie-Arisierung

NS-Raubzug im Zellstoffreich der Gebrüder Bunzl.

„Anatomie einer Industriegründung im Dritten Reich“ nennt Roman Sandgruber sein neues Werk – über das oberösterreichische Lenzing. „Das ist ein geradezu paradigmatischer Fall, der alle Probleme und Diskussionspunkte der NS-Herrschaft anspricht“, sagt der Historiker: die rasche Gründung mit überhöhten Kosten (alles muss flott, flott gehen) an einem an sich traditionsreichen Industriestandort, die größte „Arisierung“ einer ganzen Industrie, also die Enteignung der Gebrüder Bunzl.

Auch die umliegenden Bauernhöfe wurden „kassiert“, dazu kamen eine waghalsige Finanzkonstruktion und ein enormes Korruptionsnetz. „Man protzte mit Großmannssucht“, schreibt der Autor, „mit dem höchsten Schornstein des Reiches oder gar Europas (153 Meter hoch, 1,25 Millionen Klinkersteine verbaut), man verkündete Produktionsrekorde und Sozialleistungen, die Potemkinschen Dörfern ähnelten.“

Das einzige Frauen-KZ in OÖ

Sandgruber erklärt das System der Zwangsarbeit und das Frauen-KZ Lenzing, die Ernährungsversuche im KZ mit dem aus der Zellulose-Ablauge gewonnenen künstlichen Eiweiß. „Oberdonaus“ Wirtschaftskammer war alles andere als glücklich über die Zwangsarbeiter aus 14 unterjochten Nationen. Nicht aus humanitären Gründen, sondern aus rassischen: Man fürchtete eine „Unterwanderung durch fremdländische Arbeitskräfte“.

All dies geschah unter dem Lenzinger Generaldirektor SS-Brigadeführer Dr. Walther Schieber. Seine Bedeutung reichte weit über das Lokale hinaus: Neben zahlreichen weiteren Funktionen war er auch Albert Speers Stellvertreter im Rüstungsministerium, zuständig für die Kontakte zwischen dem Industriekomplex und Himmlers Konzentrationslagern.

Lenzing – das bedeutet auch Giftgasforschung. Am Beispiel Schieber zeigt Sandgruber plastisch die Konflikte, die sich immer wieder zwischen „Ostmärkern“ und dem „Altreich“ Hitlers auftaten. Im speziellen Fall steigerte sich die Animosität bis zur „Todfeindschaft“ (Sandgruber) zwischen Schieber und Gestapo-Chef Ernst Kaltenbrunner. Das wieder verhalf Schieber nach 1945 zu einer „weißen Weste“ im Dienste der US-Giftgasforschung. Sandgrubers Studie behandelt auch erstmals ausführlich den Streit um die Weiterführung und Eigentümerschaft nach 1945, der die Höchstgerichte bis 1960 beschäftigte und schließlich zu einer indirekten Verstaatlichung über die Länderbank und die Creditanstalt führte. Heute ist Lenzing der größte Zellwolleproduzent der Welt. hws

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2010)

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