Wenn sich Bürger entblößen müssen, dann auch Herrscher

Gastkommentar. WikiLeaks hat den Regierenden ihre fehlende Legitimation vorgeführt. Das erklärt die heftigen Reaktionen.

In zehn Jahren werden wir den derzeitigen Machtkampf zwischen „WikiLeaks.info“ und der westlichen Welt unter Führung der USA als Wendepunkt analysieren. Als jenen Moment, in dem westliche Demokratien ihr Verhältnis zu ihren eigenen BürgerInnen neu zu verhandeln begannen. Was der knapp vierzigjährige Australier Julian Assange losgetreten hat, ist mehr als die Verbreitung einer Unzahl von Dokumenten. Es geht um die Legitimation um die Legitimierung zeitgenössischer Demokratien.

Mit der Veröffentlichung der amerikanischen Behördenakten stellt sich nicht nur die Frage neu, ob Personal und Logistik, die bei der Produktion dieser Texte als Aufwand anfallen, tatsächlich das Steuergeld wert sind, das sie kosten. Die zahlreichen InformationsbeschafferInnen kochen nämlich nicht nur mit Wasser, sondern vor allem mit ziemlich lauen Hören-Sagen-Informationen.

Als JournalistInnen würden sie damit außerhalb des Boulevards nicht weit kommen. Es geht aber nicht nur ums Geld, sondern auch um die Frage: Wie viel Öffentlichkeit verträgt die Demokratie bei gleichzeitiger umfassender Entblößung aller ihrer BürgerInnen? Lässt sich das Verhältnis zwischen demokratischen Staaten und ihren BürgerInnen in seinem heutigen Status quo hinreichend legitimieren?

Internet-Anarchie als Korrektiv

Können staatliche Kontrollen wie „Nackt-Scanner“, Registrierung, Speicherung und Auswertung praktisch sämtlicher privater Daten, Bewegungsprofile, Abhören von mobiler Telekommunikation, genetisches Profiling oder die österreichische, euphemistisch so genannte „Transparenzdatenbank“ auch nur ansatzweise Legitimation finden? Können sie legitimiert werden, wenn zugleich immer mehr staatliche Einrichtungen geschaffen werden, die sich demokratischer Legitimation entziehen, deren Budgets, Personal und inhaltliche Aktivitäten den Parlamenten und der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben? Die Versuche der US-Regierung, die Veröffentlichung ihrer Korrespondenzen über und durch WikiLeaks.org zu verhindern (mit demokratisch ebenfalls nicht legitimierten Mitteln wie Druck- und Drohbriefen), hat eine Internet-Anarchie entstehen lassen. Sie richtet sich gegen staatliche und private Stellen, die aufgrund des amerikanischen Druckes WikiLeaks ihrerseits Geld und Internet–Ressourcen entziehen wollten. Unter unter dieser Perspektive erscheint die Internet-Anarchie als Gegengewicht und notwendiges Korrektiv zu den zahlreichen Entblößungen, die demokratische Staaten ihren BürgerInnen zumuten.

Weit verbreitetes Unbehagen

Dabei möchte ich der Internet-Anarchie nicht das Wort reden. Kaum vorzustellen, was passieren würde, wenn über Internet-Piraterie etwa die Stromversorgung oder andere lebenswichtige Einrichtungen lahmgelegt werden.

Der breit gefächerte Zuspruch, den die weitgehend anonym gebliebenen Internet-Aktivisten erhalten, lässt darauf schließen, dass das Unbehagen über das Missverhältnis zwischen der Nacktheit der BürgerInnen vor ihren Behörden und den verschlossenen Informationen demokratischer Staaten weit verbreitet ist. Jedenfalls weiter verbreitet, als es der bescheidene öffentliche Diskurs darüber vermuten ließe.

Die westlichen Demokratien müssen sich die Frage gefallen lassen, die sie ihren BürgerInnen selbst gestellt haben: „Wer nichts zu verbergen hat, hat doch nichts zu befürchten, oder?“ Westliche Demokratien unterscheiden sich von anderen Staatsformen dadurch, dass sie ihre Legitimation von ihrem Verhältnis zu ihren BürgerInnen ableiten. Dieses Verhältnis kann nicht anders gestaltet sein als durch Gegenseitigkeit.

Rechte und Pflichten müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, müssen auch reziprok wirken. Der Pflicht auf Seiten der BürgerInnen, sich und ihre Handlungen zu erklären, steht die Pflicht demokratischer Staaten gegenüber, sich und ihre Handlungen ebenfalls zu erklären.

Das ist der wesentliche Unterschied zu nicht-demokratisch legitimierten Regierungsformen. Wenn Regierungen ihre Bürger von praktisch aller Privatheit entblößen, dann können sie nur dann demokratisch bleiben, wenn sie sich ebenfalls vor den BürgerInnen entblößen. Genau das hat WikiLeaks über die letzten Monate gemacht. Genau das hat den Regierenden ihre fehlende Legitimation vorgeführt und lässt auch die heftigen Reaktionen erklären.

Zurück zur Unschuldsvermutung

Deshalb befinden wir uns an einem Wendepunkt: Wenn unsere Demokratien den BürgerInnen weiterhin die Hose ausziehen wollen, müssen die Regierenden gleichziehen, sofern sie nicht autokratisch agieren wollen.

Oder die demokratischen Staaten, die seit 2001 keinen noch so fadenscheinigen Anlass verstreichen ließen, um Bürgerrechte sukzessive einzuschränken, kehren zurück zum Prinzip des BürgerInnen-Rechts – auch zu jenem rechtsstaatlichen Prinzip, das zunehmend ausgehöhlt wurde: der Unschuldsvermutung vor der staatlichen Justiz, solange nicht die Schuld zweifelsfrei erwiesen ist.

Dazu gehört auch, dass BürgerInnen nicht von vornherein umfassend gescannt und überwacht werden, sondern nur dann, wenn sie einer Straftat verdächtig sind. Bis dahin ist WikiLeaks.info weniger eine Gefahr für demokratische Staaten als vielmehr ein Gegengewicht zur heutigen demokratie.com.

Zur Person


E-Mails an: debatte@diepresse.comDr. Anton Legerer ist Psychologe (Wien) und Zeithistoriker (Florenz); 1993/94 Gedenkdienst im U.S. Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C.. Derzeit Lehrverpflichtung im Gesundheitswesen und Tätigkeiten in der Immobilienbranche. [PRIVAT]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2010)

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