Und zack!

Kein Jahreswechsel ohne Neujahrsspringen. Dann Berg Isel, Bischofshofen und, und, und. Wie oft habe ich schon diese jungen Männer in ihren eigenartig bunten Kunststoffanzügen gebückt in die Tiefe rasen gesehen! Seit acht Jahren rase ich selber. In meiner Freizeit. Passion Skispringen: eine Selbsterfahrung.

Tausende sind es sicher gewesen, eher Zehntausende. Es läppert sich zusammen in einem jahrzehntelangen Dasein als Fernsehzuschauer. Allein die Vier-Schanzen-Tournee jedes Jahr. Dann noch die Olympischen Spiele, Weltmeisterschaften und, und, und...


Zehntausende Male schon rasten vor meinen Augen junge Männer in eigenartig bunten Kunststoffanzügen und auf elendslangen Skiern in gebückter Haltung in die Tiefe. Fast kein Jahreswechsel ohne das Neujahrsspringen im Fernsehen. Oberstdorf, Garmisch, der Berg Isel in Innsbruck und schließlich Bischofshofen. Das waren noch Ereignisse, bei denen sich die Familie zu Mittag vor dem Fernsehgerät versammelt hat. Warten auf den Feiertagsbraten, warten auf Roger Ruud, Jochen Danneberg, auf Walter Steiner, Toni Innauer, Kari Ylianttila, später auf Andi Goldberger, Matti Nykänen, Adam Malysz, Janne Ahonen, Thomas Morgenstern. Knappe Entscheidungen. Immer wieder der entscheidende Sprung in Zeitlupe, immer wieder dieselben Bewegungen, könnte man meinen, aber mit dem Betrachten Zehntausender solcher Sprünge scheint man selbst auf dem Sofa einen Blick dafür zu entwickeln, warum dieser oder jener Springer das kleine Bisschen besser war als der andere.


Nicht zu vergessen die Erklärungen der Skisprungexperten, die von den TV-Anstalten zu Rate gezogen werden. Sie erläutern anschaulich, was es mit der sogenannten Rotation nach dem Absprung auf sich hat, warum ein Springer zu viel „gedrückt" hat, zu viel wollte und damit das genaue Gegenteil erreichte. Zehntausende solcher Sprünge, gesehen, beurteilt, kategorisiert, erklärt - kein Zweifel, man kann auch auf dem bereits erwähnten Sofa eine gewisse Kennerschaft erlangen, ein Connaisseur werden wie bei der Beurteilung passabler Weine oder Käsesorten, ohne jemals Wein oder Käse produziert zu haben. Skispringer zu beurteilen, ohne jemals gesprungen zu sein. Ja, das geht. Guter Sprung, verschenkte Weite, miese Landung, verkrampfte Flughaltung.


Aber wie fühlt sich das an? Was die Körperrotation ist, wissen mittlerweile viele interessierte Zuschauer. Aber wie fühlt sich Rotation an, oder wie fühlt es sich an, wenn man zu wenig davon hat nach dem Schanzentisch. Oder - Gott behüte! - zu viel davon. Wie kann man einen bevorstehenden Sturz in der Luft noch „abrudern", und welche Muskeln braucht man dazu? Geht das instinktiv - oder kann man das trainieren?
Das zu klären, war mir selbst in einem Alter noch ein Bedürfnis, in dem man bestenfalls als Trainer in diesem Sport vorstellig wird. Es war nicht leicht, mit 39 Jahren erstmals Sprungskier anzuschnallen, sich in einen Sprunganzug zu zwängen und die ersten, eher verzagten Sprungversuche mit gehörigem Respekt in den Schnee zu setzen. Aber die Neugier war einfach zu groß. Heute, acht Jahre später, kann ich schon auf meine kleine Routine zurückgreifen, wenn ich, auf dem Balken sitzend, die zwei Spuren entlang Richtung Schanzentisch blicke. Acht Jahre, sicher auch schon mehr als 1000 Sprünge auf kleinen bis mittleren Schanzen - schön langsam kann ich ahnen, was Schlierenzauer & Co empfinden, aber mit Worten kaum ausdrücken können.


Wie sich so ein Sprung denn anfühle, habe ich einen Skisprungstar zu Beginn meiner eigenen Springerkarriere einmal gefragt und dabei ein begeistertes Leuchten in seinen Augen sehen können. Dann eine lange Pause, bevor es aus ihm herausplatzte: „Ein Wahnsinn!"
Dass es ihn gibt, diesen „Wahnsinn", das ahnt man schon bei den ersten mühsamen Versuchen auf Minischanzen. Es muss ihn geben, sonst wäre ich nicht dabei geblieben bei diesem für Normalbürger doch eher unüblichen Sport. Regelmäßiges Training - im Winter wie im Sommer - lässt einen im Lauf der Zeit aufrücken in größere Dimensionen. 20 Meter, 30 Meter, 45 Meter, 60 Meter, 70 Meter - die angepeilten K-Punkte wandern immer weiter nach unten, die Größe der bezwungenen Schanzen nimmt kontinuierlich zu. Rückschläge inklusive. Bitteres Lehrgeld muss jeder zahlen. Sei es der Angstschweiß, wenn man das erste Mal am Ablauf einer größeren Schanze sitzt, sei es ein Sturz, weil man sich übernommen hat.
Toni Innauer hat einmal von Ekstase gesprochen, von der Ekstase eines perfekten Sprunges. Davon bin ich natürlich Lichtjahre entfernt, und mein kleines, sportlich nur begrenzt talentiertes Leben reicht wohl nicht aus, um der Innauerschen Ekstase erfolgreich nachzuspüren. Aber nur einmal kurz davon zu kosten von dieser Ekstase, das wäre schon etwas. Dieses Verlangen hat mich jahrzehntelang die Muskeln vor dem Fernsehgerät anspannen lassen, wenn die wahren Könner in Oberstdorf, Innsbruck oder Bischofshofen vor meinen Augen in die Tiefe gesegelt sind. Daumen drücken, Anspannung, Muskelkontraktion, Luft anhalten - ein bisschen sind wir doch alle vor dem Fernsehgerät schon mitgesprungen bei der Vier-Schanzen-Tournee.


Jetzt aber Schluss mit der Imagination. Ich habe das Fernsehsofa mit dem eiskalten Aluminiumbalken auf dem Sprungturm vertauscht. Die Anspannung heißt ab sofort Konzentration, der Blick nach unten flößt mir keine Angst mehr ein, eher ein Gefühl des Respekts, aber auch Vertrauen in mein bisher antrainiertes Können. Ein letzter Handgriff an die Ferse, wo eine Plastikklammer passgenau in einer Vertiefung des Sprungschuhs steckt. Diese Klammer stellt jene Verbindung zwischen Ski und Schuh her, die notwendig ist, um den Ski in der Luft kontrolliert führen zu können.


In einem Springerleben sollte es höchstens einmal passieren, dass man diese wichtige Klammer vergisst. Dieses eine Mal habe ich bereits abgebüßt. Eine Vergesslichkeit, die meine Skier unbarmherzig bestraften, indem sie nach dem Absprung gegen meine Brust schlugen. Mir blieb nichts anderes übrig, als die führungslosen Skier irgendwie vom Körper wegzustoßen, mit heftigem Armrudern irgendwie Stabilität in der Luft zu erlangen, und doch bin ich dann - sehr unsanft - bäuchlings im Tiefschnee gelandet. Irgendwie. Ohne Telemark, ohne Gleichgewicht, aber mit viel Schwerkraft. Und viel Glück.
Also, Fersen-Check absolviert, der Trainer, gut sichtbar in der Nähe des Schanzentisches stationiert, hebt die Hand, wartet noch eine letzte Windböe ab, bevor er das Zeichen gibt loszufahren.


Wie oft hat er uns den Bewegungsablauf beim Skispringen in den vergangenen Jahren eingetrichtert. Im Trockentraining, auf Schnee, im Sommer auf Mattenschanzen. Immer wieder. Statt beim Absprung zurückzuziehen, sich klein zu machen, einzurollen, wie es dem natürlichen Reflex entspräche, muss man sich lang machen, mit dem Kopf voran in die Tiefe tauchen. Das muss erst einmal ins Hirn hinein, ins Großhirn, Kleinhirn oder am besten in die Amygdala, wenn da noch Platz frei ist. Aber gerade dort hat sich ja die Angst gemütlich eingerichtet. Mit dem Kopf voran nach unten - und die Beine strecken, den ganzen Körper in Spannung bringen. Damit kommt man auf jeder Schanze heil runter, hat unser Trainer jahrelang gepredigt. Und es stimmt. Wer allerdings nach dem Absprung entgegen seinen Anweisungen die Beine anzieht - auch ein natürlicher Reflex -, der hat schon verloren. Der anschließende Salto ist gewiss.
Das alles weiß ich nach Hunderten Sprüngen. Dennoch geht mein Kopf noch einmal alles durch, während ich auf die Freigabe durch den Trainer warte. Doch der streckt noch immer die Hand in die Höhe. Der Wind hat sich noch nicht beruhigt.


Höchste Konzentration. Der Körper ist leicht angespannt, der Atem wird flacher. Ein letztes tiefes Durchatmen. Die Skibrille noch einmal zurechtgerückt - und dann ist es so weit. Der Trainer senkt den Arm Richtung Schanzentisch, das Zeichen für die Schanzenfreigabe. Los geht's.
Ich neige langsam meinen Oberkörper nach vorne, stoße mich leicht vom Aluminiumbalken ab und nehme schnell Fahrt auf, spüre, wie der kalte Wind an meinem Körper vorbeistreicht, suche meine Anfahrtsposition zu optimieren, den Schwerpunkt leicht nach vorne legen, ohne auf den Zehenspitzen zu stehen zu kommen, denn das würde mich in der Luft kopfüber hinauskatapultieren, verdammt, der Druck auf die Oberschenkel ist enorm, denke ich und versuche dagegenzuhalten, weil sich die Anlaufspur bereits abflacht und ich mich dem Schanzentisch nähere, der verdammte Schwerpunkt muss zentral vorne bleiben, aber nicht zu viel, die Geschwindigkeit, 50, 55, 60 Kilometer pro Stunde, drückt mich nach hinten, aber ich darf mich nicht nach hinten absetzen, die Landschaft verschwimmt zu einem seitlichen weißen Strich, kleine Tannenzweige zwischen den Fahrspuren markieren bereits die Nähe der Absprungkante, noch zehn Meter, neun Meter, acht, der Atem gepresst, die Tannenzweige, der Druck auf die Knie nimmt zu, die Muskelspannung in den Beinen und Armen ist nur mit Mühe in Zaum zu halten, nur kein zu frühes Abspringen, denke ich, noch sieben Meter, sechs, fünf bis zur Absprungkante, vier Meter, drei, der Körper richtet sich auf, versucht den Rückziehreflex zu überwinden und dabei den Schwerpunkt nicht zu stark nach hinten zu verlagern, die Arme wollen den Oberkörper nach oben ziehen, doch da ist nichts, noch zwei Meter, ein Meter - und zack.


Das ziehende Rauschen der Skier ist abrupt verstummt, nur der Wind säuselt leicht bis an meine Ohren, kein Abstützen nach unten mehr, Luft, Luft, Luft unter mir, den Kopf nach vorne, den Kopf nach vorne, Spannung halten, Spannung in den Beinen, ziehen mit dem ganzen Körper, nicht nachlassen, nicht aufmachen, nicht zurückziehen, der Mund ist offen, ich weiß nicht, ob ich atme, sehe nur den Schnee unter mir, die Markierungsstriche, die Skier stemmen sich vor mir gegen den Wind, ich halte die Spannung, soweit es möglich ist, sauge die Landschaft neben und vor mir ein, die Skier ruhig halten, Spannung, Spannung, die Luft ist mein Freund, mein Freund, es geht nach unten, weiter, weiter, der Schnee kommt näher, immer näher, Spannung auslassen, zur Landung ansetzen, kein Denken mehr, kein Nachdenken, auslassen und die Landung einleiten, die Beinspannung lässt nach, der Schnee - flapp! - das Rattern, dieses Rattern der Skier, konzentriert auf dem Ski bleiben, konzentriert, der Sprung ist erst zu Ende, wenn man steht, Konzentration, die Geschwindigkeit drückt mich nach unten, das Rattern, es wird flacher, der Druck, der Druck, ich atme wieder, ein Gefühl steigt auf in mir, ein Gefühl, was ist es? Was ist es? Es ist - ein Wahnsinn! ■

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