Gastbeitrag

Ein sich verschließendes Labyrinth

(c) Peter Kufner
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Demenz verbreitet sich in einem geradezu fulminanten Tempo. Die in die Umdunkelung Geschickten werden immer mehr.

DER AUTOR

Dr. Franz Schandl
(* 1960 in Heidenreichstein) studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, lebt dort selbst als Publizist. Zahlreiche wissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen im In- und Ausland. Herausgeber der Zeitschrift „Streifzüge“: www.streifzuege.org.

Wenn ich in mich gehe und nichts verdränge, dann fühle ich mich umstellt. So viele Demente in meiner nahen Verwandtschaft gab es noch nie. Soweit mir bekannt, sind unzählige meiner Vorfahren ohne Anzeichen geistigen Verfalls recht alt geworden. Ganz stimmt das vielleicht nicht, denn meine bis zuletzt rüstige Großmutter hat mit ungefähr 95 damit doch noch angefangen. Einmal verlief sie sich in ihrem geliebten Wald und kannte sich gar nicht mehr aus. „Wem gehöre ich denn?“, fragte die hochbetagte Frau. Irgendjemand nahm sie an der Hand und brachte sie nach Hause. Dort, bei uns, war sie bis zu ihrem Schluss gut aufgehoben. Zu ihrem Neunzigsten hat sie sich aber noch eine Geburtstagsrede gehalten, die alle Festgäste beeindruckte. Ihr Sohn, mein Vater, wies schon als Endsiebziger Gedächtnislücken auf, die sich allmählich, wenn auch langsam, vergrößerten, auch wenn wir manchmal nicht wussten, ob er sich nicht absichtlich dumm stellte, weil er dann mehr bedient wurde. Wäre er nicht vor zwei Jahren gestorben, wäre er inzwischen aber Teil der Statistik. Im vergleichbaren Alter waren seine Mutter und auch sein Vater noch absolut hell.

Sie werden immer jünger

Die Betroffenen werden immer jünger. Auch in meiner Umgebung. Zwei Schwestern meiner Mutter etwa, 77 und 74 Jahre alt. Die Ältere ist schon einige Zeit im Heim, sie erkennt oft nicht einmal ihre Kinder. Ich habe sie ungefähr fünf Jahre nicht mehr gesehen, gelegentlich erzählen mir ihre Söhne von ihr. Sie ist nun bereits sehr lang ausgelagert und praktisch verabschiedet. „Ach, die lebt auch noch?“, sagen die Leute im Dorf. Ihre jüngere Schwester wohnt noch allein in ihrem Haus, wird ambulant betreut, doch niemand weiß, wie lang das noch gutgeht. Alle fünf Minuten fragt sie mich das Gleiche, wenn ich sie besuche. Der Prozentsatz meiner dementen Anverwandten ist inzwischen hoch, so hoch, dass ich fürchten muss, dass dieser Kelch möglicherweise an mir nicht vorbeiziehen wird. Noch habe ich keine Angst, aber wie ist das in fünf oder zehn Jahren? Sind entfallene Eigennamen bereits das erste Kennzeichen einer getrübten Zukunft?

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