Gastbeitrag

Menschliche Werte für künstliche Intelligenz

(c) Peter Kufner
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Die Zukunft der Technologie sollte man nicht den CEOs der IT-Branche überlassen. Handeln wir nicht jetzt, werden wir das bereuen.

DIE AUTORIN

Ana de Palacio
(geboren 1948 in Madrid) studierte Rechts- und Politikwissenschaften sowie Soziologie. Ab 1994 war sie Abgeordnete im Europäischen Parlament, von 2002 bis 2004 spanische Außenministerin, später Vizepräsidentin der Weltbank. Derzeit ist sie Mitglied des spanischen Staatsrates und Gastdozentin an der Georgetown University.

Das Jahr 2023 könnte zu dem Jahr werden, in dem künstliche Intelligenz den Alltag neu gestaltet. So formulierte es Brad Smith, Präsident und stellvertretender Vorsitzender von Microsoft, auf einer vom Vatikan organisierten Veranstaltung über KI. Bei Smiths Feststellung handelte es sich weniger um eine Prognose als vielmehr um einen Aufruf, aktiv zu werden. Auf der Veranstaltung – an der Spitzenkräfte aus der Branche sowie führende Vertreter der drei abrahamitischen Religionen teilnahmen – bemühte man sich um die Förderung eines ethischen, auf den Menschen ausgerichteten Ansatzes bei der Entwicklung von KI.

Es besteht kein Zweifel, dass KI zahlreiche operative, ethische und regulatorische Herausforderungen mit sich bringt. Deren Bewältigung wird sich nicht einfach gestalten. Obwohl die Entwicklung von KI bis in die 1950er-Jahre zurückreicht, bleiben die Konturen und wahrscheinlichen Auswirkungen vage. Bahnbrechende Entwicklungen – von dem schon fast beängstigend menschlich anmutenden Text des Chat GPT von OpenAI bis hin zu Anwendungen, die den Prozess der Arzneimittelentwicklung um Jahre verkürzen könnten – verdeutlichen freilich das immense Potenzial der KI. Es bleibt jedoch weiterhin unmöglich, sämtliche Aspekte vorherzusehen, in denen KI das menschliche Leben umgestalten wird.

Gefahr für Demokratie

Diese Ungewissheit ist nicht neu. Selbst wenn wir das Potenzial einer Technologie erkannt haben, neigen wir dazu, von der Form der Transformation überrascht zu werden. So wurden beispielsweise die sozialen Medien ursprünglich als Innovation zur Stärkung der Demokratie angepriesen. Doch aufgrund der erleichterten Verbreitung von Desinformation haben sie weit mehr zur Destabilisierung der Demokratie beigetragen. Es ist davon auszugehen, dass KI in ähnlicher Weise genutzt werden wird. Wir verstehen nicht zur Gänze, wie KI funktioniert. Man denke an das „Black-Box-Problem“: Bei den meisten Tools wissen wir, was reingeht und rauskommt, aber nicht, was dazwischen passiert. Wenn KI (bisweilen unwiderrufliche) Entscheidungen trifft, stellt diese Undurchsichtigkeit ein ernsthaftes Risiko dar, das durch Probleme wie die Übertragung impliziter Voreingenommenheiten durch maschinelles Lernen noch verstärkt wird. Weitere Gefahren sind der Missbrauch persönlicher Daten und die Vernichtung von Jobs. Und: Nach Ansicht des Ex-US-Außenministers Henry A. Kissinger könnte KI menschliche Vision untergraben, da Information den Sachverstand „erdrückt“. Einige befürchten gar, dass KI zum Aussterben der Menschheit führen wird.

Angesichts der Risiken kann die Zukunft der Technologie nicht allein den KI-Forschenden überlassen werden, geschweige denn den CEOs der Tech-Branche. Zwar ist überzogene Regulierung nicht die Lösung, doch muss das Vakuum in diesem Bereich gefüllt werden. Dies erfordert jene Art von breit angelegtem weltweiten Engagement, das zunehmend die Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels bestimmt.

Rivalität USA/China

In der Tat liefert der Klimawandel eine brauchbare Analogie für KI – weit brauchbarer als der oft bemühte Vergleich mit Atomkraft. Die Existenz von Atomwaffen mag die Menschen indirekt durch geopolitische Entwicklungen betreffen, aber die Technologie ist weder fester Bestandteil unseres Alltags noch ist sie flächendeckend verbreitet. Der Klimawandel aber betrifft, so wie KI, uns alle und die Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung könnten für ein Land zum Nachteil werden. Schon jetzt ist der Wettlauf um die Vorherrschaft im Bereich KI ein zentrales Merkmal der Rivalität zwischen China und den USA. Würde eines der Länder seiner KI-Industrie Beschränkungen auferlegen, würde es riskieren, dass das andere davonzieht. Ebenso wie bei der Senkung von Emissionen ist daher ein kooperativer Ansatz entscheidend.

Das ist leichter gesagt als getan: Der begrenzte Konsens zum Thema KI hat zu einem Sammelsurium an Regeln geführt. Und die Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen in internationalen Foren wurden durch Machtkämpfe vereitelt. Es gibt jedoch auch vielversprechende Neuigkeiten. Die EU arbeitet etwa an einem ambitionierten prinzipienbasierten Instrument zur Festlegung harmonisierter KI-Regeln. Dieses Gesetz, das noch heuer fertiggestellt werden soll, zielt darauf ab, „Entwicklung und Verwendung“ von KI in der EU zu erleichtern und gleichzeitig zu gewährleisten, dass die Technologie „als positive Kraft für die Gesellschaft im Dienst der Menschen steht“. Von der Anpassung der Vorschriften für zivilrechtliche Haftung bis zur Produktsicherheit wird mit dem Gesetz die Art von umfassendem Ansatz für die Regulierung der KI verfolgt, wie wir sie bisher vermisst haben. Es sollte nicht überraschen, dass die EU eine Vorreiterrolle einnimmt. Sie hat schon in der Vergangenheit an führender Stelle bei der Entwicklung von Regelwerken in kritischen Bereichen gewirkt. Die EU-Gesetzgebung zum Datenschutz hat wohl ähnliche Vorschriften in anderen Teilen der Welt angeregt, wie etwa im Fall des Consumer Privacy Act in Kalifornien oder des Gesetzes zum Schutz personenbezogener Daten in China.

Doch ohne die USA sind Fortschritte in der globalen KI-Regulierung unmöglich. Und trotz des gemeinsamen Engagements mit der EU zur Entwicklung einer „vertrauenswürdigen KI“ geht es den USA vor allem um Vorherrschaft in diesem Bereich. Deshalb versuchen sie nicht nur, ihre eigenen Spitzentechnologien zu fördern – unter anderem dadurch, den bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten –, sondern auch durch die Behinderung des Fortschritts in China. Wie der amerikanische Nationale Sicherheitsausschuss für KI in einem Bericht von 2021 feststellt, sollten die USA „auf Engpässe abzielen, die erhebliche strategische Kosten für die Wettbewerber, aber nur minimale wirtschaftliche Kosten für die US-Industrie verursachen“. Die von den USA im Oktober verhängten Exportkontrollen, die Chinas moderne Computer- und Halbleitersektoren ins Visier nehmen, sind ein Beispiel für diesen Ansatz. China seinerseits wird sich so wahrscheinlich nicht von seinem Streben nach technologischer Autarkie und letztlich nach Vorherrschaft abhalten lassen.

Ein weiterer Angriffspunkt

Abgesehen davon, dass sich Möglichkeiten zur Manifestation KI-generierter Gefahren eröffnen, hat diese Rivalität auch geopolitische Auswirkungen. So verschafft Taiwans überragende Rolle in der Halbleiterindustrie dem Land zwar Einfluss, könnte aber auch einen weiteren Angriffspunkt bedeuten.

Es hat über 30 Jahre gedauert, bis sich das Bewusstsein für den Klimawandel zu echten Maßnahmen verdichtet hat. Und wir tun noch immer zu wenig. Angesichts des Tempos der technologischen Innovation können wir es uns nicht leisten, bei KI ähnlich zu agieren. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir das fast sicher bereuen. Und wie beim Klimawandel werden wir die Untätigkeit wohl viel früher beklagen, als wir glauben.

© Project Syndicate 1995–2023
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2023)

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