Am Herd

Leute, gebt Trinkgeld!

Früher hatte ich stets ein paar Euro in der Tasche – für den Postler, für Lieferanten, die Augustin-Verkäuferin, den Bettler ums Eck. Und jetzt? Über die Tücken bargeldlosen Bezahlens.

Ich bin ja nicht so der Early Adopter. Bis ich mir eine Bankomatkarte besorgt habe, hat das gedauert. Was, wenn ich sie verliere? Der Automat sie schluckt? Da ging ich lieber zur Bank – bis man mich dort schon komisch anschaute. Aber auch später habe ich die Karte meist nur zum Abheben verwendet. Bezahlt habe ich, wenn überhaupt, nur große Beträge, die man nicht so einfach einstecken hat: 500 Schilling für den Liegewagen in den Westen. 1000 Schilling für den neuen Kühlschrank. Ich hoffe, die Summen stimmen in etwa. Ich habe kein Gefühl mehr dafür, was der Schilling wert war.

Mittlerweile zücke ich dauernd die Karte. Early Adopter? Pah, Heavy User. Ich sage gern, die Pandemie sei schuld, kontaktloses Bezahlen ist ja so hygienisch, aber vielleicht bin ich auch einfach nur bequem, 3,50 Euro beim Bäcker, 13,80 in der Apotheke, 10,70 für die Bowl, kurz hinhalten und fertig, und manchmal laufe ich tagelang ohne einen Cent Bargeld durch Wien. Braucht ja keiner, oder?

Die Schale mit Münzen. Und so eile ich an meiner Stamm-Augustin-Verkäuferin vorbei und zucke kurz entschuldigend mit den Schultern, ich schaue in der U-Bahn auf meine Stiefelspitzen, als der alte Herr ein herzerweichendes italienisches Liedlein anstimmt und mit dem Pappbecher herumgeht, ich eile am Bettler vorbei nach Hause und habe nicht einmal ein schlechtes Gewissen – und wenn dann der Postler klingelt, ist die Schale mit den Münzen leer. Wie auch nicht, es füllt sie ja keiner mehr auf. Es ist bestechend leicht, nichts zu geben. Es ist noch leichter, sich vorzunehmen, das nächste Mal dafür besonders großzügig zu sein und es dann zu vergessen. Vor allem: Was hat die junge Frau vom Lieferdienst davon? Die sehe ich vermutlich nie wieder.

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