Gastbeitrag

Was wurde aus dem gefürchteten Wutwinter?

(c) Peter Kufner
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Die Massenproteste blieben aus. Wie konnte die Protestfantasie von populistischen Zündlern derart einflussreich werden?

DER AUTOR

Bernhard Pörksen

(*1969 in Freiburg im Breisgau) studierte Germanistik, Biologie und Journalistik. Er ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ (Hanser), verfasst mit Friedemann Schulz von Thun.

Die untergründige Macht von Katastrophenfantasien wurde mir zu Beginn der Pandemie im Jahre 2020 schlagartig klar. Ich war im Aufbruch in die USA, wollte im Silicon Valley forschen, konnte jedoch nicht reisen, weil es kein Visum gab. Die Grenzen waren dicht. Und so scrollte ich missmutig durch die Twitter-Timeline kalifornischer Autoren, stöberte in Lokalzeitungen nach Lageberichten. Und da war sie direkt vor meinen Augen, die gefühlte Katastrophe, geprägt von Gewalt, Plünderungen, Schießereien. Ich stieß auf Fotos von langen Schlangen von Menschen, die sich vor Waffengeschäften bildeten. Entdeckte Bilder von leer gekauften Munitionsregalen. Ein Fünftel aller Ad-hoc-Käufer, so machte eine Studie der Northeastern University klar, hatte noch nie zuvor eine Waffe besessen, war nun aber zu der Auffassung gelangt, dass es jetzt an der Zeit sei, sich zu schützen. Diese Mischung aus Erwartungsfurcht und Selbstbewaffungsaktivismus ist ein Beispiel für die sehr realen Folgen irrealer Einfälle und Ideen. Man sieht an dem Beispiel der panischen Waffenkäufe, dass auch unbegründete Ängste, Erzählungen über die angeblich egoistisch-brutale Natur des Menschen ihre eigene Wirklichkeit erschaffen. Wir leben die Geschichten, die wir uns erzählen.

Verunsicherungs-Pingpong

An diese Bilder aus der Frühphase der Pandemie muss ich in diesen Tagen wieder denken. Denn Politik und Öffentlichkeit haben in den vergangenen Monaten im Bann eines Katastrophenmythos existiert, den populistische Zündler zu schüren vermochten, kurioserweise in einer ungewollten, aber doch seltsam hysterisch wirkenden Kooperation mit klassischen Medien, Verfassungsschützern, Politikerinnen und Politikern. Mal ganz konkret: Bereits im Juli 2022 warnt die deutsche Außenministerin, Annalena Baerbock, vor „Volksaufständen“ im Fall einer dramatischen Gasknappheit. Andere sehen die Gefahr von Massenprotesten. Auch politische Kommentatoren schalten sich in ähnlich düsterer Tonlage zu. Die zunächst diffusen Warnungen werden dann von Rechtsradikalen registriert und im eigenen Milieu euphorisch verstärkt, wie Social-Media-Analysen der Forschungsstelle „Gegen Hass im Netz“ im Detail zeigen. Das heißt: Es entsteht im Zusammenspiel der verschiedenen Stimmen und Öffentlichkeiten eine Art Verunsicherungs-Pingpong. Rechtsradikale Strategen in Deutschland und Österreich räsonieren darüber, wie sich die Risse und Gräben in der Gesellschaft noch vertiefen lassen. Manche träumen von einer Art Gelbwestenbewegung, andere von Protesten nach dem Vorbild kanadischer Trucker. Einschlägige Anbieter bewerben hektisch Prepper-Produkte – Handbücher für den Ernstfall, Stromgeneratoren, Dosen mit Hühnereipulver („Emergency Food“). Man sieht hier, wie schon zu Zeiten der Pandemie, eine eigenartige Mischung aus Protestaufrufen und Geschäftsinteressen, eine Art Angstunternehmertum. In den Katakomben von Telegram-Kanälen ist parallel von Chaos, Bürgerkrieg und Zerfall zu lesen. Der Umsturz kommt bald, ganz bald; da ist man sich sicher.

Erregungsepidemien

Fakt ist jedoch, Stand heute: Die Massenproteste fielen aus. Nur ein einziges Beispiel: Am 6. Januar 2023 sollte in Wien eine „Megademo“ stattfinden. Nur ein paar Hundert Menschen erschienen, obwohl man bereits vom Thema der Energiekrise abgerückt und zur Agitation gegen die inzwischen weitgehend aufgehobenen Corona-Maßnahmen zurückgekehrt war. Diese hatten einst tatsächlich Großdemonstrationen in vielen Städten ausgelöst. Auf der Wiener „Megademo“ konnte man dann noch einen Sprecher hören, der zu berichten wusste, dass nun Impfstoff aus den Leichen abgetriebener Säuglinge gewonnen werde – immerhin, diese Horrornachricht hatte der Mann exklusiv. Ein paar Verwirrte schienen überzeugt, applaudierten.

Aber noch einmal: Den Wutwinter hat es nicht gegeben, dies gleich aus mehreren Gründen. Zum einen halfen die milliardenschweren Entlastungspakete der Politik, zum anderen war der Winter deutlich milder als erwartet. Überdies wurde nach Kräften Energie gespart. Des Weiteren brach die Wirtschaft nicht wie erwartet drastisch-dramatisch ein, sondern wuchs in Deutschland und Österreich sogar leicht. Und schließlich zeigten sich die deutsche und die österreichische Bevölkerung seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Mehrheit solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, trotz der explodierenden Gaspreise, der massiven Inflation und der im Alltag erlebbaren Härten. Genau besehen sind das ziemlich gute Nachrichten, oder?

Man könnte es dabei bewenden lassen und sich einfach im Stillen freuen, dass die Strategien rechtsradikaler Verelendungstheoretiker keinen Erfolg hatten. Aber die öffentliche Dominanz des Wutwinter-Geredes offenbart die enorme Macht der Angst unter den aktuellen Medien- und Kommunikationsbedingungen. Das Fatale ist: Eigentlich sind in diesem hoch nervösen, beständig pulsierenden Wirkungsnetz irgendwann alle Teil des Spiels, die Mahner und Warner, die rechtsradikalen Strategen, die profitgierigen Angstunternehmer und die Fantasten mit ihrem Umsturzgerede, aber auch die etablierten Medien und die Politikerinnen und Politiker der Mitte, die maximal düstere Untergangsprognosen verbreiten. Die Gefahr besteht dann darin, dies ist ein gut bestätigter Befund der Katastrophenforschung, dass sich Menschen tatsächlich egozentrisch und unsolidarisch verhalten, weil sie glauben, dass andere dies auch tun. Das vorherrschende Menschen- und Weltbild liefert in solchen Situationen die Handlungsmaximen, so zeigt sich. Es greift hier also ein Mechanismus, den der Psychologe Paul Watzlawick eine sich selbst erfüllende Prophezeiung genannt hat. Eben weil die Prophezeiung von so vielen geglaubt wird, tritt sie dann auch tatsächlich ein.

Einfach weglachen?

Was also tun? Es gibt keine leichte, keine einfache Lösung, dies ist gewiss. Vielleicht sollte man die Ignoranz von Idiotien zur neuen Kommunikationstugend ausrufen. Vielleicht sollte man auch gut gemeinte Warnungen disziplinierter formulieren oder sie doch zumindest mit einer Art Beipackzettel zum Informationsgebrauch versehen, frei nach dem Motto: „Niemand weiß bislang, ob es irgendwann wirklich zu Volksaufständen kommt. Wir vermuten jetzt einfach einmal so herum.“ Und nur nebenbei: Unter dem Hashtag #Wutwinter sammelt sich inzwischen jede Menge Spott auf Twitter. Auch hier zeigt sich eine Strategie, man lacht das Untergangsgeschwätz von populistischen Zündlern einfach weg. In jedem Fall ist es an der Zeit, in der Breite der Gesellschaft Techniken der Abkühlung zu trainieren und die Bekämpfung von Erregungsepidemien einzuüben. Und vielleicht gilt es mitunter, die Solidarität, die Stärke und die Krisenresilienz von Menschen und ganzen Gesellschaften zu feiern – das wäre doch eine wirklich schöne, eine ziemlich großartige Möglichkeit, oder?

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2023)

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