„Alles auf die Straße, alles schießen!“

Bürgerkrieg 1934. Der erste Schuss kam aus dem Linzer Schutzbund-Hauptquartier „Hotel Schiff“. Bereits am ersten Tag der Kämpfe ließ sich Otto Bauer über die Grenze nach Pressburg bringen.

12.Februar 1934: Nein, das war kein heroischer Kampf. Otto Bauer hatte keinen Schlaf gefunden, war dementsprechend überreizt, als in den Morgenstunden in Linz der (kurze) österreichische Bürgerkrieg ausbrach. Regierungstruppen umlagerten das Hotel „Schiff“, in dem sich vierzig Schutzbündler verschanzt und Waffen gehortet hatten. Ein Maschinengewehr war dem Arbeiter Kunz anvertraut. Der feuerte um halb neun Uhr vormittags „über den Hof auf die Polizei“. Der erste Schuss, auf den es in der Geschichte immer ankommt, fiel also wohl von sozialistischer Seite.

Zwei verschlüsselte Telegramme Bauers nach Linz, nicht loszuschlagen und erst einen Parteivorstand abzuwarten („Ärzte raten abwarten, vorläufig noch nichts unternehmen“), waren von der Polizei abgefangen worden. In Wien fiel kurz vor Mittag der Strom aus, die Straßenbahnen standen still. Das sollte der Generalstreik sein. Aber auch die Druckmaschinen, die die Flugblätter hätten produzieren sollen, schwiegen jetzt notgedrungen. Es gibt von dieser operettenhaften Situation viele Berichte von Zeitgenossen – Olah hat gern davon erzählt, auch sein Jugendfreund Kreisky.

Durch Radfahrboten versuchte die „Gefechtsleitung“ im Favoritner „Ahornhof“, die Arbeiter zu mobilisieren: „Alles auf die Straße, alles schießen!“ Bis heute ist nicht sicher, schreibt Bauer-Biograf Hanisch, dass Bauer den Befehl gegeben hat. Denn die Augenzeugin Rosa Jochmann schilderte, dass der nominelle Parteiführer in diesen Stunden psychisch gar nicht in der Lage dazu war. „Bauer wirkte verzweifelt – ratlos und alleingelassen.“

Kurz nach Mittag verhängte Dollfuß das Standrecht. Also die Drohung der Todesstrafe durch den Strang für jede Widersetzlichkeit. Otto Bauer geriet in Panik. Wer ihm zur überstürzten Flucht am Abend des 12.Februar geraten hat, lässt sich kaum noch nachvollziehen. Rosa Jochmann behauptete, man habe Bauer überreden müssen, er habe bleiben wollen „angesichts der tausend Genossen, die heute ihr Leben lassen müssen“. Jochmann: „Vielleicht werden manche dies als eine Schwäche auslegen, gewiss wäre eiserne Härte am Platz gewesen. Die fehlte unserem Genossen Bauer.“

Tatsache ist, dass sich der Parteiführer und der Kommandant des Schutzbundes, Julius Deutsch, abends in zwei Limousinen nach Pressburg führen ließen. Um die Sache noch pittoresker zu machen, verpasste sich Deutsch eine Augenklappe, ließ sich damit fotografieren, um den verzweifelten Genossen in Wien glaubhaft zu machen, er sei in den Kämpfen ernstlich verwundet worden. Das Datum ihrer Flucht setzten Bauer und Deutsch im Nachhinein in ihren Verteidigungsschriften stets um zwei Tage später an, was Joseph Buttinger nur noch mit bitterem Hohn kommentierte.

Nein, es war kein Ruhmesblatt. Bruno Kreisky sollte später sein Idol Otto Bauer wegen dieser Fahnenflucht kritisieren, was bei den letzten überlebenden Austromarxisten gar nicht gut ankam. Aber da war Otto Bauer schon lange tot. Und im Laufe der Jahrzehnte gelangte der tote Parteiführer der Zwischenkriegszeit zu ungeahnten neuen Ehren. Sein Scheitern wurde dabei sorgsam ausgeblendet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2011)

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