Der Chatbot kann Erlebnisaufsätze formulieren, Referate schreiben oder Gedichte – nach einigen Versuchen sind die Ergebnisse so täuschend echt, dass Lehrer darauf hereinfallen. Die Art, wie ich früher geschummelt habe, hält der Chatbot dagegen für verwerflich – ich habe ihn gefragt.
Es war Angst, nackte Angst. Drei Dreizehnjährige waren in einer Rieder Mittelschule auf einer Mission Impossible. Alle drei waren sie von massiven Versetzungssorgen („Sitzenbleiben“) im Fach Mathematik geplagt. Die Lehrerin des Faches war eine knorrige alte Dame mit dunkelbrauner Lederhaut, harten Gesichtszügen und gemeiner Attitüde. Das öffentliche Bloßstellen schwächerer Schüler und stundenlanges Strafestehen im hinteren Eck des großen Zeichensaales gehörten zu ihrem gängigen pädagogischen Methodenrepertoire. Eine Figur, irgendwo zwischen Lehrer Lämpel und einer Napola-Ausbildnerin, die auch 1985 längst aus der Zeit gefallen war.
Ihr Reich war der Zeichensaal, in dem sie neben Bildnerischer Erziehung – die Kinder hatten jedes Jahr mehrmals eine alte Obstschüssel abzumalen – auch Mathematik unterrichtete. Mit Aufgaben, bei denen die Wurstsemmel stets 1,50 Schilling kostete. Diese Schularbeiten waren nun der Grund für meine Ängste, Schmiere stehend eben vor dem erwähnten Zeichensaal. Im hinteren Eck befand sich nämlich ein kleines Extrazimmer mit einem Kasten. Und darin wieder etwas, was für uns nicht weit weg vom Heiligen Gral angesiedelt war: die Schularbeitenvorlagen der knorrigen Mathematiklehrerin.
Den Zeugnisfünfer vor Augen, hatten wir einen gewagten Plan entwickelt: Wir wollten in den Saal eindringen, den versperrten Kasten aufbrechen und die Schularbeiten der vierten Klasse entwenden. Der technisch Begabteste von uns hatte eine Art Dietrich angefertigt, mein Sitznachbar verfügte über wertvolle Kontakte zum damals einzigen Copyshop des Bezirkes Ried. Der Dritte im Bunde hatte nichts beizutragen, außer einer glaubhaften Lügengeschichte, mit der er unerwünschte Besucher vom Zeichensaal fernhalten sollte. Monatelang hatten wir an der Strategie gefeilt, Risiken und Gewinn abgewogen und Ideen konkretisiert. So arbeitete George Clooney in „Ocean's Eleven“, so arbeiten aber auch die effektiven Teams bei Microsoft und Google. Hochspezialisiert, mit Korpsgeist und einem Masterplan vor Augen.
Das österreichische Schulunterrichtsgesetz und die Leistungsbeurteilungsverordnung regeln Schwindeln hingegen juristisch-emotionslos. Wer erwischt wird, dem sind die Hilfsmittel abzunehmen, bereits erschummelte Leistungen sind nicht zu beurteilen. Da es in Österreich aber neben dem kodifizierten Recht stets auch eine meist ungleich wirkungsmächtigere Realverfassung gibt, drohten uns damals ganz andere Konsequenzen. Der Schlüsselbund so mancher Lehrer hing locker, und einer der Techniklehrer war berüchtigt für sein Eisenlineal.
Später, als Lehrer, habe ich vielfältige Formen gesehen, den Weg zum schulischen Erfolg zu erleichtern: plump-derbe Zettel, in der großen Pause hastig verfasst, kaum verdeckte gelbe Klebezettel mit englischer Grammatik drauf. Oder die elegantere Form: mit einer gerade noch lesbaren, in 5 Punkt Arial getippten Schummelhilfe, die auf die Rückseite eines 30-cm-Lineals geklebt war. Nie vergessen werde ich jene Schülerin, die sich auf den Sohlen beider Füße mit einem dünnen Tuschstift die Formeln sämtlicher geometrischer Körper notiert hat. Auch die gelegentliche Klopause während der Schularbeit kann der besseren Note dienlich sein – so der Unterrichtende nicht vorher das Handy (und das Ersatzhandy) einkassiert hat.