Gastkommentar

Lohnt sich die Verteidigung Taiwans?

(c) Peter Kufner
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Und wie sie sich lohnt! Denn ein chinesischer Angriff auf Taiwan wäre auch ein Angriff auf Japan und Südkorea.

Der Autor

Ian Buruma (* 1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York. Zahlreiche Publikationen; zuletzt „The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit (Penguin, 2020).

Niemand scheint zu wissen, wie die Vereinigten Staaten auf einen chinesischen Einmarsch in Taiwan reagieren würden. Jahrzehntelang hat die US-Regierungspolitik alles unternommen, um dieser Frage auszuweichen. Im September des vergangenen Jahrs allerdings hat US-Präsident Joe Biden Washingtons Politik der „strategischen Ambiguität“ offenbar beendet, als er meinte, US-Truppen würden die Insel im Fall „eines beispiellosen Angriffs“ verteidigen. Doch unmittelbar nach Bidens Rede machten Mitarbeitende des Weißen Hauses einen Rückzieher und betonten, dass sich die US-Politik gegenüber Taiwan nicht geändert habe.

Während der amerikanisch-japanische Sicherheitsvertrag aus dem Jahr 1960 die USA verpflichtet, bei einem Angriff auf japanisches Territorium in den Krieg zu ziehen, besteht zwischen den USA und Taiwan kein derartiger Vertrag. Sollte China einen Angriff auf die Insel beschließen, wäre man hinsichtlich der Reaktion der USA auf Vermutungen angewiesen. Obwohl diese strategische Ambiguität als Abschreckung dienen soll, stellt sich die Frage, ob sie überhaupt noch ausreicht.

Schließlich ist China heute viel mächtiger als zu der Zeit, als man versuchte, im Laufe der Taiwanstraßenkrise von 1958 durch Beschuss der Inseln Quemoy und Matsu Taiwan von den Nationalisten unter Chiang Kai-shek zu „befreien“. Damals bestand zwischen den USA und Taiwan noch ein gegenseitiger Verteidigungsvertrag, und die amerikanische Militärführung drängte zu einem Atomschlag auf dem Festland.
Heute verfügt China über das zahlenmäßig weltgrößte Militär und ein umfangreiches Atomwaffenarsenal. Der chinesische Präsident, Xi Jinping, weiß, dass die USA keinen Atomkrieg riskieren können und deshalb in der Ukraine nicht direkt interveniert haben. Das ermutigt ihn. Denn wenn die USA nicht gegen ein weitaus schwächeres Russland kämpfen wollen, werden sie gegen China auch nicht in den Kampf ziehen.

Ein politischer Richtungswechsel bei den US-Präsidentschaftswahlen 2024 könnte Chinas Hoffnungen auf eine gewaltsame Übernahme Taiwans beflügeln. Ein republikanischer Präsident – sei es Ex-Präsident Donald Trump oder ein Gleichgesinnter – könnte beschließen, die USA von Konflikten in fernen Ländern abzuschotten. Das ist ein guter Grund, jetzt eine Sicherheitsverpflichtung gegenüber Taiwan abzugeben.

Aber lohnt es sich tatsächlich, Taiwan zu verteidigen, auch auf die Gefahr hin, damit einen verheerenden Krieg zu riskieren? Ich denke schon. Ein Angriff auf Taiwan wäre auch ein Angriff auf Japan und Südkorea. Würde man China eine Vormachtstellung im süd- und ostchinesischen Meer ermöglichen, hätte es die Volkswirtschaften dieser beiden Länder im Würgegriff. Verlieren Japan und Südkorea das Vertrauen in Amerikas Fähigkeit oder Engagement, die Sicherheit dieser Länder zu verteidigen, müssten sie sich entweder der chinesischen Vorherrschaft unterwerfen oder damit beginnen, sich Atomwaffen zuzulegen. Beide Optionen könnten katastrophale Folgen haben.

Hinzu kommt die strategische Bedeutung Taiwans als Hersteller von über 90 Prozent der hoch entwickelten Halbleiter dieser Welt. Eine chinesische Übernahme Taiwans und seiner Chip-Industrie würde dazu beitragen, das globale Machtgleichgewicht zugunsten Chinas zu verschieben. Das hätte weitreichende wirtschaftliche und strategische Folgen.

Taiwan als schlechtes Vorbild

All das wäre kein ernsthaftes Problem, würde es sich bei China um eine liberale Demokratie oder um eine offene Gesellschaft handeln. Leider ist dem aber nicht so, und das ist vielleicht der wichtigste Grund, Taiwan zu verteidigen.

Ironischerweise war die Insel in den 1950er-Jahren, als für die USA noch eine Pflicht zur Verteidigung Taiwans bestand, keine Demokratie wie heute, sondern stand unter der Herrschaft eines repressiven autokratischen Regimes. Damals ergab Amerikas Unterstützung für Chiang Kai-shek jedoch durchaus Sinn: Mao Zedongs China war nämlich weitaus schlimmer. Obwohl der Maoismus unter Revolutionären – vor allem in armen postkolonialen Ländern und auf westlichen Universitäten – eine Zeit lang populär war, fanden Maos brutale Methoden weltweit zum Glück wenig Anklang.

Das derzeitige chinesische Modell präsentiert sich weitaus glaubwürdiger. Im Gegensatz zur Sowjetunion ist es der Kommunistischen Partei Chinas gelungen, liberale Erwartungen zu widerlegen und bemerkenswerte wirtschaftliche Erfolge bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer leninistischen Diktatur zu erzielen. Zuvor waren die Liberalen davon ausgegangen, dass die Kombination aus wachsender Mittelschicht und freier Marktwirtschaft zu Demokratie führen würde. Die Wandlung Südkoreas und Taiwans von Militärdiktaturen zu liberalen Demokratien schien diese These zu stützen. Mittlerweile wissen wir allerdings, dass der Kapitalismus im „Sozialismus chinesischer Prägung“ florieren kann.

Chinas Erfolg begeistert zahlreiche Autokraten in Entwicklungsländern, wo umfangreiche chinesische Investitionen in die Infrastruktur das Image des chinesischen Regimes als effizienterer, durchschlagskräftigerer und verlässlicherer Partner als die oft chaotischen und aufdringlichen westlichen Demokratien gefestigt haben. Das ist ein gefährlicher Trend, gerade in einer Zeit, da die liberalen Demokratien durch radikale Populisten von innen attackiert werden. Ein Sieg Trumps 2024 würde Diktatoren und Autoritäre auf der ganzen Welt, darunter auch Xi, auf den Plan rufen.

„Nicht reif“ für Demokratie

In China und anderen Teilen Asiens hat lang eine unheilvolle Form kultureller Propaganda die Herrschaft diverser Machthaber begünstigt. Die von Lee Kuan Yew, dem Gründer und langjährigen ehemaligen Premierminister Singapurs, propagierte Leitidee lautet, dass „asiatische Werte“ mit demokratischer Regierungsführung unvereinbar seien. In konfuzianischen Gesellschaften, so das Argument, haben sich Individualinteressen dem kollektiven Interesse unterzuordnen, und soziale Ordnung hat Vorrang vor Freiheit. Angehörige der zunehmend wohlhabenden Mittelschicht Chinas schließen sich dieser Ansicht vielfach an. Gewöhnliche Chinesen, so heißt es in bestimmten Kreisen in Peking und Shanghai, seien noch nicht reif für demokratische Regierungsführung und brauchten die harte Hand der Autorität.

Aus diesem Grund ist Taiwan so bedeutsam. Abgesehen von nationalistischem Groll scheinen Chinas Machthaber von Taiwan regelrecht besessen zu sein, da dessen bloße Existenz die Prämisse des autoritären chinesischen Modells widerlegt. Weil die taiwanische Demokratie die Menschen in China auf „falsche“ Gedanken bringen könnte, will China diese Demokratie zerschlagen, wie man es auch in Hongkong getan hat. Biden hat wiederholt versprochen, die Demokratie vor der Bedrohung durch die Autokratie zu schützen. Wenn er das ernst meint, muss er dafür sorgen, dass Taiwan frei bleibt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
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