Gastkommentar

Ist die Globalisierung wirklich vorbei?

(c) Peter Kufner
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Wirtschaft. Nein, die Globalisierung ist nicht vorbei. Sie ist bloß nicht mehr so, wie wir sie uns wünschen. Wir bleiben abhängig voneinander.

DER AUTOR

Joseph S. Nye (*1937 in South Orange, New Jersey) ist Professor für Politikwissenschaft an der Harvard University. Er war Vorsitzender des National Intelligence Council (1993/94) und stellvertretender US-Verteidigungsminister (1994/95). Zahlreiche Publikationen, zuletzt: „Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump“ (2020).

Die Globalisierung ist fast tot“ – das verkündete Ende 2022 Morris Chang, der legendäre Gründer des führenden taiwanischen Halbleiterherstellers. In einer Welt, in der die Lieferketten durch Covid-19 und die sich verschärfende chinesisch-amerikanische Rivalität unterbrochen wurden, teilen auch andere Kommentatoren diese Ansicht, und viele Unternehmen haben begonnen, ihre Warenbeschaffung ins Inland bzw. nahe Ausland zu verlegen. Es ist jedoch ein Fehler, daraus zu schließen, dass die Globalisierung zu Ende ist.

Die Globalisierung ist die Zunahme der gegenseitigen Abhängigkeit über interkontinentale (nicht nationale oder regionale) Entfernungen hinweg. Sie ist weder gut noch schlecht, sondern hat viele Dimensionen. Klimawandel und Migration haben die Ausbreitung der Menschheit über den gesamten Planeten vorangetrieben, seit unsere Vorfahren vor über einer Million Jahren begonnen haben, Afrika zu verlassen, viele andere Arten haben das Gleiche getan.

Diese Prozesse haben schon immer zu biologischen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten geführt. Die militärische Globalisierung reicht mindestens bis in die Zeit von Xerxes und Alexander dem Großen zurück. Und natürlich ging die Sonne über dem britischen Empire des neunzehnten Jahrhunderts nie unter. Auch die großen Religionen verbreiteten sich über mehrere Kontinente hinweg – eine Form der soziokulturellen Globalisierung.

In jüngster Zeit liegt der Schwerpunkt auf der wirtschaftlichen Globalisierung: den interkontinentalen Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Technologie- und Informationsströmen. Auch dieser Prozess ist nicht neu, aber die technologischen Veränderungen haben die mit den Entfernungen verbundenen Kosten stark reduziert, so dass die heutige wirtschaftliche Globalisierung „mächtiger und schneller“ ist. Die Seidenstraße verband Asien und Europa im Mittelalter, aber sie war nichts im Vergleich zu den riesigen Strömen moderner Containerschiffe, ganz zu schweigen von der Internetkommunikation, die Kontinente sofort miteinander verbindet.

Während die Globalisierung im 20. Jahrhundert in erster Linie als wirtschaftliches Phänomen betrachtet wurde, entwickelte sie sich in den 2000er-Jahren zu einem politischen Schlagwort (für Befürworter und Kritiker gleichermaßen). Als Randalierer in Davos die Scheiben eines McDonald's-Restaurants einschlugen, um gegen die Arbeitsbedingungen in Asien zu protestieren, war das ein Zeichen politischer Globalisierung.

Die heutige Globalisierung unterscheidet sich deutlich von der des 19. Jahrhunderts, als der europäische Imperialismus einen Großteil der institutionellen Struktur bereitstellte und als höhere Kosten bedeuteten, dass weniger Menschen direkt beteiligt waren. Westliche Unternehmen begannen um 1600, sich in der ganzen Welt auszubreiten, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsprach der weltweite Bestand an ausländischen Direktinvestitionen etwa zehn Prozent der globalen Produktion. 2010 umfasste der weltweite Bestand an ausländischen Direktinvestitionen auch nicht westliche Unternehmen und entsprach etwa 30 Prozent des weltweiten BIPs.

Krieg zerstört Interdependenz

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 gab es ein hohes Maß an globaler Interdependenz, einschließlich der Bewegungen von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Es gab auch Ungleichheit, da die Vorteile der wirtschaftlichen Globalisierung ungleich verteilt waren. Die wirtschaftliche Interdependenz hinderte die wichtigsten Handelspartner jedoch nicht daran, sich gegenseitig zu bekämpfen (weshalb er damals der Große Krieg genannt wurde). Nach diesen vier Jahren verheerender Gewalt und Zerstörung nahm die weltweite wirtschaftliche Interdependenz drastisch ab. Der Welthandel und die Investitionen erreichten erst in den 1960er-Jahren wieder das Niveau von 1914.

Könnte das Gleiche noch einmal passieren? Ja, wenn die USA und Russland oder China in einen Krieg verwickelt werden. Aber abgesehen von dieser Eventualität ist es unwahrscheinlich. Bei allem Gerede über die wirtschaftliche „Entkopplung“ waren die Brüche bisher recht punktuell und unvollständig. Der globale Waren- und Dienstleistungsverkehr hat sich nach dem Covid-Abschwung im Jahr 2020 stark erholt, wenn auch nicht in allen Bereichen gleich.

Da die USA neue Schranken errichtet haben, um den Fluss bestimmter sensibler Waren aus und nach China zu behindern, sind ihre Einfuhren aus China nur um sechs Prozent über das Niveau vor dem Covid-Abschwung gestiegen, während ihre Einfuhren aus Kanada und Mexiko um über 30 Prozent zugenommen haben. Im Fall der USA scheint sich also die Regionalisierung stärker erholt zu haben als die Globalisierung. Bei näherer Betrachtung wird man jedoch feststellen, dass der Anteil Chinas an den amerikanischen Importen von 2018 bis 2022 von 21 auf 17 Prozent gesunken ist, während die US-Importe aus Vietnam, Bangladesch und Thailand um mehr als 80 Prozent gestiegen sind. Diese Zahlen deuten keineswegs darauf hin, dass die Globalisierung tot ist.

Es muss erwähnt werden, dass dieser neue asiatische Handel mit den USA in Wirklichkeit ein Zwischenhandel mit China ist. Die USA und ihre Verbündeten sind immer noch stärker mit der chinesischen Wirtschaft verflochten, als dies während des Kalten Kriegs mit der Sowjetunion der Fall war. Westliche Länder können ihre Sicherheitsrisiken verringern, indem sie chinesische Unternehmen wie Huawei von westlichen 5G-Telekommunikationsnetzen ausschließen, ohne die hohen Kosten für die Zerschlagung aller globalen Lieferketten auf sich nehmen zu müssen.

Niemand kann das allein lösen

Und selbst wenn der geopolitische Wettbewerb die wirtschaftliche Globalisierung erheblich einschränken würde, bliebe die Welt durch die ökologische Globalisierung in hohem Maße voneinander abhängig. Pandemien und Klimawandel gehorchen den Gesetzen der Biologie und Physik, nicht der Politik. Kein Land kann diese Probleme allein lösen. Treibhausgase, die in China ausgestoßen werden, können zu einem kostspieligen Anstieg des Meeresspiegels oder zu Wetterstörungen in den USA oder Europa führen und umgekehrt.

Diese Kosten könnten enorm sein. Wissenschaftler schätzen, dass sowohl China als auch die USA durch die in Wuhan ausgebrochene Covid-19-Pandemie mehr als eine Million Todesopfer zu beklagen hatten, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass beide Länder bei den politischen Maßnahmen nicht zusammengearbeitet haben. Eine erfolgreiche Bewältigung des Klimawandels oder künftiger Pandemien erfordert die Anerkennung globaler Interdependenzen, auch wenn dies den Menschen nicht gefällt.

Die Globalisierung wird weitgehend durch technologische Veränderungen vorangetrieben. Die Bedeutung von Entfernungen nimmt ab. Daran wird sich nichts ändern. Die Globalisierung ist nicht vorbei. Sie ist bloß nicht mehr so, wie wir sie uns wünschen.

Übersetzung: Andreas Hubig © Project Syndicate 1995–2023

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2023)

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