Gastkommentar

Der Untergang des „amerikanischen Traums“

(c) Peter Kufner
  • Drucken

Die Welt droht trotz aller globalen wirtschaftlichen Integration am Rande eines neuen Kalten Krieges zu stehen.

DER AUTOR

Michael J. Boskin
(*1945 in New York) studierte Wirtschaftswissenschaften in Berkeley. Derzeit ist er Professor für Ökonomie an der Universität Stanford und Senior Fellow der Hoover Institution. Von 1989 bis 1993 war er Chef des wirtschaftlichen Beraterstabs des damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush senior. [ Project Syndicate]

Wer sich heutzutage eine Sportsendung anschaut, wird mit Sofortwiederholungen verwöhnt, die wichtige Momente detailliert – oft in Zeitlupe – wiedergeben. Beim Schauen der Nachrichten haben Sie vielleicht das Gefühl, dass Sie die Vergangenheit auf ähnliche Weise erleben. Aber diese Wiederholungen – hohe Inflation, steigende Staatsverschuldung, ein brutaler Bodenkrieg in Europa, ein neuer Kalter Krieg und das Aufkommen potenziell zerstörerischer Technologien – sind alles andere als unmittelbar, hier steht viel mehr auf dem Spiel.

Die Leserinnen und Leser werden sich vielleicht daran erinnern, dass ich bereits im Frühjahr 2021 eine steigende Inflation und ein langsameres Wachstum vorausgesagt habe. Der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers tat dies sogar schon früher. Doch die heutige Inflation – die schlimmste seit den frühen 1980er-Jahren – hat die meisten überrascht. Engpässe in der Versorgungskette, einschließlich Unterbrechungen auf dem Energiemarkt und im Lebensmittelsystem im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine, trugen zum anfänglichen Preisanstieg bei. Der Hauptgrund für die derzeitige Inflation ist jedoch die verschwenderische Geld- und Fiskalpolitik, die beibehalten wurde, obwohl sich die Wirtschaft nach der Pandemie schneller als erwartet erholte.

Der von US-Präsident Joe Biden im März 2021 umgesetzte amerikanische Rettungsplan in der Höhe von 1,9 Billionen Dollar war fast dreimal so groß wie die vom Congressional Budget Office geschätzte BIP-Lücke, die noch geschlossen werden müsste, damit die Wirtschaft ihr Potenzial erreicht. Unverkennbar sind Anklänge an Präsident Lyndon B. Johnsons Schuldenpolitik zur Finanzierung des Vietnam-Krieges und des „War on Poverty“ Ende der 1960er-Jahre.

Unterdessen hielt die US-Notenbank ihren Zielzinssatz zu lang nahe bei null und begann zu spät mit dem Abbau ihrer Bilanz – ein Vorgehen, das an die geldpolitischen Fehler erinnert, die sie in den 1970er-Jahren unter ihrem Vorsitzenden Arthur Burns machte. Die Zentralbanker waren der Ansicht, dass es nicht schaden würde, die Inflation eine Weile über das Zwei-Prozent-Ziel hinauslaufen zu lassen, bevor man sie wieder senkt, weil man das Ziel zuvor unterschritten hatte.

Die Wirtschaft „heiß laufen“ zu lassen bringt kurzfristig Vorteile. Unmittelbar vor der Pandemie war die Arbeitslosigkeit in den USA niedrig, Minderheitengruppen hatten die niedrigste Armutsquote in der Geschichte, und die Löhne stiegen am untersten Ende der Einkommensverteilung am schnellsten. (. . .) Aber der wirtschaftliche und politische Preis ist fällig geworden. Die Kerninflation (ohne Lebensmittel- und Energiepreise) in den USA lag in den vergangenen zwölf Monaten bei durchschnittlich 5,6 Prozent. (. . .) Sie ist nach wie vor fast dreimal so hoch wie das Ziel der Fed. Das Credo der Zentralbank lautet, dass der kurzfristige Zinssatz einige Zeit über der Inflation liegen muss, bevor die Inflation in Richtung des Zielsatzes fällt.

Tiefe Verunsicherung

Die Löhne haben mit der Inflation nicht Schritt gehalten, und die meisten Haushalte erleben seit zwei Jahren einen Rückgang der Realeinkommen. Obwohl die Arbeitslosigkeit nach wie vor sehr niedrig ist und sich die US-Wirtschaft besser entwickelt hat als im Großteil der übrigen Welt, glaubt fast die Hälfte der US-Bevölkerung, dass sie sich bereits in einer Rezession befindet, und die meisten Amerikaner erwarten, dass es ihren Kindern und Enkeln schlechter gehen wird als ihnen. Dieser gefühlte Untergang des „amerikanischen Traums“ hat die Öffentlichkeit – und die Politik – zutiefst verunsichert.

Eine weitere Wiederholung, die viele überrascht hat, ist der grausame Bodenkrieg in Europa. Der desaströse Rückzug der USA aus Afghanistan 2021 hat die Abschreckung geschwächt. Aber Putin hat seine Pläne für die Ukraine deutlich angekündigt. Abgesehen davon, dass er 2005 beklagte, der Untergang der Sowjetunion sei die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts – schlimmer als der Zweite Weltkrieg, in dem 20 Millionen Russen starben –, eroberte er 2008 einen Teil Georgiens und annektierte 2014 die Krim.

Drittens scheint die Welt trotz aller globalen wirtschaftlichen Integration der jüngsten Jahrzehnte am Rande eines neuen Kalten Krieges zu stehen. Chinas zunehmendes wirtschaftliches und militärisches Durchsetzungsvermögen sowie seine sich vertiefenden Beziehungen zu Russland lassen Befürchtungen über eine Neuordnung der internationalen Beziehungen und sogar einen neuen Zusammenprall der politisch-wirtschaftlichen Systeme aufkommen. (. . .) Besonders beunruhigend ist, dass sich die allianzfreien Akteure nach allen Seiten absichern – und die USA am Steuer zu schlafen scheinen. Auffällig ist die von China vermittelte Annäherung zwischen Saudiarabien, einem Sponsor des Terrorismus, und dem Iran, der fortschrittliche Militärdrohnen an Russland liefert. Bedeutet dies eine Rückkehr zum traditionellen geopolitischen Gleichgewicht der Mächte oder ist es ein Vorspiel für einen Konflikt zwischen den USA und China um Taiwan?

Schließlich bringt der technologische Fortschritt die Wirtschaft durcheinander und stellt die Erwartungen an die Zukunft auf den Kopf. Die Technologie hat die Volkswirtschaften verändert und Arbeitnehmer verdrängt, lang bevor wir einen Begriff für dieses Phänomen hatten – die schöpferische Zerstörung nach Schumpeter. Aber die Volkswirtschaften haben sich im Allgemeinen angepasst: Die Computer haben etwa nicht zu einer massiven strukturellen Arbeitslosigkeit geführt, weil die Arbeitskräfte auf andere Arbeitsplätze verteilt wurden. In jedem Fall ist der Lebensstandard gestiegen.

Wird dies auch bei der künstlichen Intelligenz der Fall sein? Eine Gruppe von Technologiekonzernchefs, darunter Elon Musk, ist da weniger sicher. In einem offenen Brief forderten sie kürzlich eine sechsmonatige (oder längere) Pause bei der Entwicklung fortgeschrittener KI, um die Risiken der Technologie besser zu verstehen und Wege zu ihrer Abmilderung zu finden. Musk ist der Meinung, dass zu diesen Risiken auch die Zerstörung der menschlichen Zivilisation gehört. Er behauptet, Google-Mitbegründer Larry Page habe ihn einmal einen „Speziesisten“ genannt, weil er die Menschheit vor der KI schützen wolle.

Vorsichtig optimistisch

Letztlich ist die KI ein Werkzeug. Sie kann für das Gute eingesetzt werden – für die Entwicklung neuer Medikamente und Diagnostika. Sie kann aber auch großen Schaden anrichten, wenn sie zur Unterstützung der Unterdrückung in China eingesetzt wird. Ich bin nach wie vor vorsichtig optimistisch, dass wir diese und die anderen erwähnten Herausforderungen bewältigen oder zumindest kontrollieren können. Angesichts der voranschreitenden Verbreitung von Kernwaffen könnten die Kosten eines Scheiterns die unwillkommenste Wiederholung von allen bedeuten.

Übersetzung: Andreas Hubig
© Project Syndicate 1995–2023

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.