Geopolitik im Nahen Osten: Die Karten werden neu gemischt

Was in Tunesien seinen Ausgang genommen hat, wird noch auf lange Sicht die internationalen Beziehungen beeinflussen.

Die Geografie sei die Konstante der Geschichte, merkte einst der deutsche Staatsmann Otto von Bismarck an. Wie recht er hatte. Denn wenn Geografie und Geschichte aufeinandertreffen, greift die geopolitische Analyse, die für das Verständnis internationaler Beziehungen wesentlich ist.

Die arabische Welt hat stagniert. Während in den 1990er-Jahren fast der gesamte Globus politische und gesellschaftliche Umwälzungen erlebte, blieb in den 22 Staaten der Arabischen Liga alles beim Alten. Grund dafür war nicht zuletzt auch die grenzenlose Unterstützung der USA und EU für die dortigen Diktatoren, auf die man als „Garanten für Stabilität“ zählen konnte.

Nur einen wollte man beseitigen: Iraks Saddam Hussein. Die anderen behielt man und förderte sie weiter. Dieses Phlegma bricht nun infolge der Rebellion der Menschen auf. Die Veränderungen werden nicht nur die arabischen Gesellschaften aufwirbeln, sondern die Karten der Geopolitik werden neu zu zeichnen sein.

„Wait and see“ kann teuer werden

Denn im Nahen Osten ruhen auch wichtige Erdöl- und Erdgasreserven. Die Preisspirale für diese Energieträger dreht sich wegen der sogenannten Jasmin-Revolution bereits nach oben. Der Westen sieht vorsichtig zu. Die Haltung „wait and see“ kann teuer zu stehen kommen. Asiatische Giganten und auch lateinamerikanische Regierungen scheinen aktiver.

Die Problematik der Preise für Grundnahrungsmittel und ihre Folgen, das Abtreten der alten Garde und der schwindende Einfluss des Westens auf die Region – all dies wird in asiatischen Medien bereits auf hohem Niveau und wohl auch in Regierungszirkeln diskutiert. Wichtige lateinamerikanische Regierungen kennen den Staat Palästina an. Der Persische Golf rückt in ihren Fokus außenpolitischer Analysen. Noch vor Beginn des Erdölzeitalters nach dem Ersten Weltkrieg waren das Rote Meer und der Golf wichtige Einflusssphäre der Briten. London interessierte sich für die Region als Station am Weg zur Kronkolonie Indien. „Free passage to India“ lautete die britische Devise.

London schuf zwar auf Basis von Schutzverträgen viele der Emirate im Golf, doch interessierte man sich für diese nur aus wirtschaftlichen Gründen. „Stämme mit Flaggen“ wurden diese oft abschätzig bezeichnet.

Amerikas Einfluss schwindet

In den meisten europäischen Sprachen ist diese Weltgegend der „Nahe Osten“. Vor allem Frankreich, das bis in die 1960er-Jahre arabische Staaten regierte, sind der Orient und Nordafrika aufgrund der Millionen von Einwanderern aus diesem Raum sehr nahe. Für die USA ist diese Weltgegend noch ein Stück ferner, auch wenn sie sich 2003 in einen Angriffskrieg auf den Irak und damit in ein gewaltiges militärisches und finanzielles Dilemma begaben.

Der Einfluss der USA schwindet rasant. Das unglückliche Bild, das Washington nun abgibt, da es nach dem Iran im Zuge der Revolution von 1979 nun auch den zweiten wichtigen Verbündeten Ägypten zu verlieren droht, wird international aufmerksam verfolgt.

Das Handelsvolumen zwischen China und den Golfstaaten hat jenes der USA bereits überholt. Angesichts der weiterhin gültigen Pekinger Doktrin der strikten Nichteinmischung in interne Angelegenheiten anderer Staaten, ist die Kooperation mit China grundsätzlich populärer, nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent.

China, Indien und auch Brasilien sind wirtschaftlich und politisch präsent. Sie verstehen sich als Länder des Südens – als ehemalige Kolonien, die in Opposition zur westlichen Kontrolle stehen.

Eine Neuordnung der Geopolitik im Golf mit noch völlig unklarem Ausgang ist im Gange. Nicht auszuschließen ist selbst eine Veränderung der Grenzen, die einst von London und Paris im Sinne ihrer Einflusszonen gezogen wurden. Wie sich neue Regierungen in der arabischen Welt, die eventuell von säkularen demokratischen Parteien, von Militärs oder von Islamisten gelenkt werden, außenpolitisch ausrichten werden, ist nicht absehbar.

Israel droht die Isolation

Eine Folge könnte aber zweifellos die verstärkte Isolation Israels sein. Wie ein Kommentator in der israelischen Zeitung „Haaretz“ schreibt, findet sich Israel nach dem Bruch mit der Türkei und dem möglichen Umsturz in Ägypten ohne Freunde im Nahen Osten wieder. Der Druck auf Israel, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten zu stoppen, wird punktuell wieder stärker, wie auch die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, wissen ließ.

Der vorläufige Gewinner ist wohl der Iran, die nicht arabische Regionalmacht. Zwar hatte Teheran seit dem Sommer 2009 mit eigenen Jugendrevolten zu kämpfen, doch das Regime hielt sich aufgrund massiver Repression. Ob das iranische Regime auch seine eigenen möglichen sozialen Aufstände, die infolge starker Kürzungen der Subventionen für Treibstoffe und Nahrungsmittel drohen, überleben wird, steht auf einem anderen Blatt. Der Iran versteht sich aber als revolutionärer Staat und jubelt lautstark über den Abtritt der „westlichen Vasallen“ mit.

Dass die Revolutionen nicht zwangsläufig auf islamistische Regierungen hinauslaufen müssen, wissen die Iraner. Sunnitische Extremisten, ihre theologischen Erzfeinde, möchten die Schiiten nicht unbedingt in Kairo oder Damaskus an der Macht sehen. Vielmehr geht es ihnen um eine Schwächung der von den USA unterstützen Staaten.

Seit den Enthüllungen durch WikiLeaks ist bekannt, was zuvor nur gerüchteweise zirkulierte: Der saudische König Abdullah drängte die USA zu einem militärischen Schlag gegen den Iran. Wenn nun auch dieser Monarch an Unterstützung verlieren sollte, ist dies nur im Sinne der Iraner.

Russland wartet ab

Eine Konstante russischer Außenpolitik ist die Sicherung des Zugangs zu „warmen Gewässern“. Verständlich für ein Land, das nur wenige ganzjährig eisfreie Häfen hat und seine Rohstoffe und Rüstungsgüter exportieren will. Dies war einer der Gründe für die Allianzen der Sowjetunion mit Syrien und bis 1973 mit Ägypten.

Russland schätzt Irans Rolle als Gegengewicht zum radikalen sunnitischen Islam im Kaukasus, der nicht nur infolge russischer Repression, sondern auch dank saudischer Stiftungen groß geworden ist und Moskau bedroht. Moskau wird nichts gegen eine Schwächung der westlichen Präsenz im Nahen Osten haben. Dennoch verhält sich die russische Führung bisher zurückhaltend.

Die Entstehung einer neuen multipolaren Ordnung in den internationalen Beziehungen ist auf turbulente Weise in Gang gekommen. Was in Tunesien seinen Ausgang genommen hat, wird uns noch lange beschäftigen.

Zur Autorin
Karin Kneissl studierte Jus und Arabistik in Wien, war 1990–1998 im Diplomatischen Dienst. Danach Lehrtätigkeit, u. a. an der Uni Wien.
Zahlreiche Publikationen, darunter: „Die Gewaltspirale. Warum Orient und Okzident nicht miteinander können“ (2007); „Der Energiepoker. Wie Erdöl und Erdgas die Weltwirtschaft beeinflussen“ (2006). [ privat ]


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2011)

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