Wer ist dieser Mann?

Im Zeitalter massenhafter televisionärer Witzmüllverwertung: Erinnerung an den ausgesprochen merkwürdigen Menschen und Komiker Heino Jaeger.

Schon seit längerer Zeit macht sich der Schweizer Verlag Kein & Aber verdient um das Werk eines der interessantesten deutschen Künstler des vergangenen Jahrhunderts und ediert die Monologe, Dialoge, Satiren, Psychodramen und Sprachdelirien Heino Jaegers. Nichts stünde also massenhafter Verbreitung im Weg, aber es wird wohl, trotz prominenter Fürsprecher wie Loriot und Eckhard Henscheid, nicht dazu kommen. Jaeger – Knut Kiesewetter, seinem ersten Produzenten, zufolge „vorsichtig gesagt ein ausgesprochen merkwürdiger Mensch“ – wird bleiben, was er schon seit Jahrzehnten ist, ein Geheimtipp. Das liegt hauptsächlich wohl daran, dass seine Stücke Aufmerksamkeit über längere Strecken fordern, eine Tugend, die im Zeitalter massenhafter televisionärer Witzmüllverwertung vielen abhanden gekommen ist; andererseits aber auch daran, dass gerade jene, die heute erfolgreich im Komikgeschäft tätig sind, nur ungern die Quellen nennen, aus denen sie die besseren Teile ihrer Kunst schöpfen.

Auch zu seinen Lebzeiten erfreute sich der Komiker Jaeger nur kurz öffentlicher Wertschätzung (der Maler Jaeger, der er auch, im Hauptberuf gewissermaßen, war, war zwar auch nicht sehr erfolgreich, wurde aber doch immer wieder ausgestellt), und schon bald nachdem er zu ersten Erfolgen und nennenswerten Einkünften gekommen war, war es mit seiner Karriere und ihm selbst vorbei.

Dr. Jaegers Lebensberatungspraxis

Überhaupt steht Heino Jaegers Leben in krassem Gegensatz zu seinem Werk, es ist alles andere als lustig. Am Neujahrstag 1938 in Harburg, einem Vorort von Hamburg, geboren, ist er von Anfang an mit Gewalt und Vernichtung konfrontiert. Feuer spielt in seiner Biografie eine wesentliche Rolle. Aus dem brennenden Hamburg übersiedelt die Familie nach Dresden, von dort, nach den Bombenangriffen im Februar 1945, wieder zurück nach Harburg. „Die Amoralität dieses Krieges und dieses Angriffs“, schreibt Joska Pintschovius, Jaegers lebenslanger Freund, in seiner „erzählten Biografie“, „war für Jaeger in einem einzigen Bild festgehalten: Still und gefasst kam den Flüchtenden ein Junge entgegen, an seiner Hand führte er ein kleines Mädchen, beide trugen ihre Nachthemdchen und gingen unaufgehalten, wie traumwandelnd, in die brennende Stadt hinein.“ Sie ähneln darin Jaeger selbst: Unaufgehalten, wie traumwandelnd wird auch er in den Untergang gehen.

Nach der Volksschule und einer abgebrochenen Malerlehre besucht er die Landeskunstschule Hamburg, er nimmt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, verschiedene Arbeiten an, als Wetterbeobachter auf einem Feuerschiff, Postbote, Backgehilfe. Ab 1960 arbeitet er hauptsächlich als Grafiker in verschiedenen Museen. Mit Malerfreunden unternimmt er zahlreiche Reisen in entlegene Gegenden Deutschlands und in die Nachbarländer, vornehmlich um zu sehen, zu filmen und zu malen, was im Westen wie im Osten aus Modernisierungsgründen zum Verschwinden verurteilt ist, dem Abbruch geweihte Gebäude, vor der Ausmusterung stehende Straßen- und Eisenbahnen. Während sich ein großer Teil der deutschen Jugend zur Studentenrevolte formiert, versuchen Jaeger und seine Freunde (die „Altmodler“, wie Hubert Fichte sie nennt, der sich dem Freundeskreis manchmal zugesellt), zumindest für sich die „gute alte deutsche Kultur“ zu bewahren, die, Folge der Naziherrschaft, als ganze desavouiert ist. In der Überzeugung, dass, was im Land vorgeht, grundfalsch ist, die Amerikanisierung des Westens ebenso wie der realsozialistische Fortschrittswahn des Ostens, und dass der öffentliche Konsens von der rapiden Läuterung des deutschen Volks vom Nationalsozialismus Lüge sei, versieht Jaeger seine Bilder immer wieder mit Naziinsignien. Ein Film wird gedreht, „Heino Jaeger, ein Maler des Deutschen Reiches“. Er macht sich damit wenig beliebt, man wirft ihm Kriegsverherrlichung vor.

Ende der Sechzigerjahre wird man über den Freundeskreis hinaus auf Jaegers Talent aufmerksam, Stegreifgeschichten zu erzählen, die ebenso, so Pintschovius im Booklet zur jüngst veröffentlichten CD „Sie brauchen gar nicht so zu gucken“, nichts anderes sind als Souvenirs jener Reisen ins versunkene Deutschland. Knut Kiesewetter produziert eine erste Schallplatte, „Wie das Leben so spielt“. Sie enthält unter anderem „Rentnersorgen“, ein für Jaegers Komik typisches, von ihm mehrfach variiertes Stück. Ein „Schwerbeschädigter“ des Weltkriegs aus Danzig erzählt darin seine Geschichte, in perfekt gesprochenem Idiom – „Jaeger besaß“, schreibt ein Kritiker und hat damit wohl recht, „das absolute Gehör für das gesprochene Wort“ –, und es ist eine höchst erstaunliche Erfahrung, wenn man, lachend über den skurrilen Bericht dieses Mannes, der höchst selbstbewusst auftritt und sich große Unverschämtheit erworben hat im Erschleichen von Rentengeldern, nach und nach zur Kenntnis nehmen muss, dass man einem Verzweifelten zugehört hat, einem Krüppel, der fast alle seine Gliedmaßen verloren hat und nun einen „Kursus“ besucht, um „mit dem Munde (zu) malen“, worauf ihm von der Behörde beschieden wird: „Wenn Sie malen können, dann können Sie auch arbeiten.“

In den Siebzigern erlangt die Radiosendung „Dr. Jaeger antwortet“ im Saarländischen Rundfunk einige Popularität. Auch in diesen kurzen Stücken tauchen immer wieder Menschen auf, die jener versunkenen, kleinbürgerlich-altdeutschen Welt entstammen und die sich oft in verzweifelten Situationen befinden, ein Vater etwa, passionierter Bastler wohl, dessen pubertierendem Sohn unglückseligerweise ein Fachbuch aus dem „Verlag für Geistesblitze“ mit dem Titel „Was man mit Streichhölzern alles machen kann“ in die Hände gefallen ist – „o Gott, jetztbrennt gegenüber der ganze Häuserblock!“ –,oder die Gattin eines pensionierten Beamtender Zollwache, der seinen Pensionsschock dadurch bekämpft, dass er in der eigenen Wohnung aus Sperrholz einen Schalter zimmert und von nun an streng die Pässe aller Hinein- und Hinausgehenden kontrolliert und die Einhaltung der Sperrstunde überwacht. Man möchte von Anfang an nicht an ihrer Stelle sein, und noch weniger nach erfolgter Beratung, denn was diese Frau von Dr. Jaeger erfährt, ist niederschmetternd: „Nach dem neuen Passgesetz ist Ihr Mann sogar verpflichtet, die Pässe einzusehen, er ist sogar berechtigt, die Pässe notfalls einzuziehen und zeitweilig zu sperren, in diesem Fall handelt Ihr Mann völlig korrekt.“

Etwas, worin Heino Jaeger seiner Zeit weit voraus ist, sind die Ratschläge, die in seiner Lebensberatungspraxis erteilt werden. Hilfreich sind sie nie, eher besteht die Gefahr, dass nach dem Verlassen der Praxis den Hilfesuchenden ihre Lage noch aussichtsloser erscheint als vorher. Heute, 40 Jahre später, da Beratung in allen Lebenslagen ein blühender Wirtschaftszweig geworden ist und Bernhard Ludwig Sexualtherapie erfolgreich auf die Kabarettbühne gehievt hat, erscheinen solche Stücke viel weniger absurd, als es damals der Fall gewesen sein muss, sondern eher als früher, prophetischerAppell, der Beratung durch oft selbst ernannte oder in Schnellsiederkursen dazu gewordenen Experten zu misstrauen.

So perfekt Heino Jaeger diverse Idiome und Sprechhaltungen beherrscht – auch heute noch glaubt man beim Hören mancher Radiosendungen, er sei am Wort und nicht ein realer, alles, was er sagt, ernst meinender Sprecher –, niemals erschöpft sich seine Komik in bloßer Parodie. Sie ist von höchster sprachlicher Virtuosität, fähig zu den erstaunlichsten Wortschöpfungen und -ballungen und jederzeit bereit, ins Surreale abzuheben. Das Stück „Neues vom Sport“ beginnt als ruhige, sachliche Sportreportage mit Meldungen wie der, dass „der Finne Mattutschek“ sich verletzt habe, und Überlegungen, „auf welcher Schlackenbahn gesprintet werden soll“. Nach und nach aber entwickelt es sich zu einem enthusiastischen, mit sich überschlagender Stimme vorgebrachten Bericht vom Einzug der Nationen zu Olympischen Spielen, einer gigantischen Parade, an der „der Bürgermeister von Sydney mit seiner Gattin, tatsächlich in Weiß“, ebenso teilnimmt wie „der Kinderminister von Kamerun“ und „der Sarkophag des Prinzen von Agadir, der ja letztes Jahr nicht konnte“. Die Begeisterung ist grenzenlos, „viele Ukrainer sind mit Sonderzügen einfach hierher gekommen, so als ob sie sagen würden, wir kommen einfach mal hierher“, und als am Ende die Olympiaflamme endlich brennt, ist der Reporter völlig außer Atem und gibt zurück ins Funkhaus zu einem stoischen, unbeeindruckten Moderator, der sich kommentarlos vom Publikum verabschiedet, „bis zum nächsten Mal“.

Borden Stücke wie das genannte über von grotesken Ideen und Worterfindungen – großartig in dieser Hinsicht „Der Kakaobaum“, in dem ein Forscher von seinen Forschungen im Amazonasgebiet berichtet, mit seinen Übersetzungen der Eingeborenensprache –, so befleißigt sich Jaeger in anderen eines strengen Minimalismus. Der lange Dialog „Das Lampengeschäft“, in dem sich ein alter Mann und eine alte Frau über die Aussichtslosigkeit des Daseins hinwegschwätzen,könnte von einem norddeutschen Beckett stammen, und in einer Variante dieses Stücks mit dem Titel „Das Rentnerpaar“ hat Sprache überhaupt abgedankt, ist die männliche Figur nur mehr in der Lage, unverständliche Laute von sich zu geben.

In psychiatrischer Behandlung

Nie aber, auch wenn man über sie und ihre Verzweiflung lacht, werden in Jaegers Stücken die Figuren denunziert. Das Drama der menschlichen Existenz, ihre Bedrohlichkeitund Bedrohtheit, ihre Würde und Lächerlichkeit, untrennbar miteinander verbunden,ist in allen seinen Stücken Thema, ob nun eine „Vermieterin“ einen potenziellen Mieter abwimmelt und dabei Schritt für Schritt das eigene grauenhafte Lebensschicksal preisgibt oder in „Die Kündigung“ – ein Stück, das in Zeiten des Neoliberalismus aktueller kaum sein könnte – ein Kotzbrocken von Personalchef, dabei ständig die eigene Niedrigkeit und Charakterlosigkeit unter Beweis stellend, den Angestellten Kaiser entlässt, dessen Namen er sich die ganzen elf Minuten, die das Stück dauert, nicht merken kann.

Heino Jaeger litt – Erbteil seines Vaters, der sich das Leben nahm – von Jugend an an Depressionen und musste immer wieder in psychiatrische Behandlung. Anfangs alkoholische Getränke verweigernd, sprach er ihnen mit fortschreitendem Alter immer exzessiver zu und ist, so berichtet Christian Meurer 1992 in der Zeitschrift „Titanic“, „Ende der Siebziger bereits willens, kostenlosauf Parties aufzutreten, wenn er nur genügend Spirituosen vorfindet“. 1983 vernichtet ein Brand seine Wohnung. Er unternimmt keine Versuche, das Feuer zu löschen, sondern sieht zu, wie die Flammen sich ausbreiten, und geht dann nackt zur Feuerwache, um den Vorfall zu melden. Von da an wird er, der inzwischen – „zu langweilig“ alles – längst verstummt ist, von verschiedenenSozialeinrichtungen betreut. 1988 bezieht er sein letztes Quartier, ein sozialpsychiatrisches Heim in Schleswig-Holstein, wo er am 7. Juli 1997 an einem Schlaganfall stirbt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2011)

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