Der Massenmörder, der Held

Gastkommentar. Die Verhaftung von Ratko Mladić ist keineswegs der Abschluss der Auseinandersetzung Serbiens mit seiner Vergangenheit.

Das Motto der Friedensbewegung „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ lässt sich am besten auf das heutige Serbien übersetzen: „Stell dir vor, ein General/Volksheld wird verhaftet und keiner protestiert.“ Nach der Verhaftung von General Ratko Mladić kam es in Serbien nur zu kleineren Protesten einiger Dutzend Nationalisten. Auch wenn die Radikale Partei für Sonntag Proteste plant, ist unwahrscheinlich, dass diese ein bedrohliches Ausmaß annehmen werden.

Außerhalb Serbiens weckt die Verhaftung Mladićs Erinnerungen an die Belagerung Sarajewos und den Massenmord an 8000 Männern nach dem Fall der Stadt Srebrenica. In Serbien ist Mladić jedoch noch für viele Bürger ein Held. In einer Umfrage, die erst vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, sahen ihn 40 Prozent als Helden, 78 Prozent der Befragten gaben an, dass die Behörden keine Hinweise über seinen Aufenthaltsort geben würden.

Obwohl Mladić für viele Serben also als Held gilt, ist die politische Unterstützung für ihn heute eher gering. Lediglich die Radikale Partei bezeichnete die Verhaftung Mladićs als „Verrat“.

Neben den zunächst schwachen Reaktionen der nationalistischen Opposition war das selbstsichere Auftreten von Präsident Boris Tadić auffällig. Als vor fast genau zehn Jahren Slobodan Milošević von der Ðinđić-Regierung verhaftet wurde, rechtfertigte diese die Verhaftung mit äußerem Druck und der finanziellen Belohnung der USA. Tadić hingegen betonte nach der Verhaftung Mladićs, dass damit ein Stigma von Serbien und der serbischen Nation entfernt wurde. Er stellte neben pragmatischen Aspekten – eine beschleunigte EU-Integration Serbiens – auch die Verbrechen, derer Mladić beschuldigt ist, in den Vordergrund.

Verweigerungshaltung

Von ähnlicher Bedeutung war die Ankündigung Tadićs, die Hintermänner der immerhin 16-jährigen Flucht Mladićs aufzudecken. Mladić wäre es nicht gelungen, sich so lange der Justiz zu entziehen, hätte er nicht die Unterstützung von militärischen und kriminellen Kreisen genossen.

Ein Einblick in diese Strukturen wird zeigen, wie weit der Staat selbst nicht nur an der Flucht Mladićs beteiligt war, sondern wie tief staatliche Strukturen Serbiens in den Krieg in Bosnien verwickelt waren. In einer Umfrage von 2009 hielt eine Mehrheit der serbischen Bevölkerung Mladić nicht für schuldig, weniger als 20 Prozent sahen in der Belagerung Sarajewos oder der Vertreibung und Ermordung von Muslimen aus den ostbosnischen Städten Zvornik und Bijelina 1992 ein Kriegsverbrechen.

Dass der Prozess gegen Mladić diese Verweigerungshaltung gegenüber der Vergangenheit ändern wird, ist unwahrscheinlich. Der Einfluss der bisherigen Prozesse in Den Haag auf die Wahrnehmung früherer Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien war jedenfalls eher gering.

Für eine Haltungsänderung bedürfte es einer gesellschaftlichen Elite, die Bewusstsein über Kriegsverbrechen schafft und diese nicht nur als lästige Bedingung auf dem Weg in die EU sieht. Mladićs Verhaftung ist somit nicht der Abschluss der Auseinandersetzung Serbiens mit der Vergangenheit, sondern eine Gelegenheit, unabhängig von externen Druck diesen Prozess voranzutreiben.


Florian Bieber ist Professor für Südosteuropa am Südosteuropa-Kompetenzzentrum der Universität Graz und Chefredakteur der Zeitschrift „Nationalities Papers“.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2011)

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