Psychologie: Als Vanessas Zimmer plötzlich leer war

Vanessas Zimmer ploetzlich leer
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Wo ist sie? Das fragte sich die Mutter einer 14-Jährigen monatelang, bis diese gefunden wurde. Lebend. Über die Psyche der Eltern vermisster Kinder weiß man wenig.

Vor 24 Tagen hat Petra Baumann ihre Tochter Vanessa zurückbekommen. Ein „neues Kind“, wie Baumann es nennt. Zwischen der neuen und der alten Vanessa liegen viereinhalb Monate im Frühsommer, die die 14-Jährige getrennt von ihrer Mutter verbracht hat. Drei Monate davon gab sie kein Lebenszeichen von sich, Polizei und Familie tappten bei der Suche im Dunkeln – irgendwo zwischen Saalfeld im deutschen Bundesland Thüringen und Magdeburg in Sachsen-Anhalt. Und in den Weiten des Cyberspace, in dem Baumann Tag für Tag und Posting für Posting nach ihrer Tochter suchte.

Dabei fehlte bei Weitem nicht jede Spur zum Aufenthaltsort und vor allem zum mutmaßlichen Drahtzieher jener Ereignisse, die Petra Baumann heute nur noch „abenteuerlich“ nennt: Ihr Exfreund, mit dem die 42-Jährige gemeinsam mit der Tochter in Saalfeld gelebt hat, soll Vanessa schon während der gemeinsamen Zeit mit der neuen Familie sexuell missbraucht haben. Zu dem Mann und Vanessas Aufenthaltsort führten schon bald nach ihrem Verschwinden Hinweise; das Mädchen wurde nach Angaben ihrer Mutter jedoch von ihrem Stiefvater bedroht und wechselte öfter ihren Aufenthaltsort, um der Polizei zu entkommen.

Vanessas Mutter hatte mehr Glück als die Eltern von Julia Kührer (die am 30.Juni nach fünf Jahren Abgängigkeit tot aufgefunden wurde) und die der ermordeten Paulina Sideres. Diese beiden Fälle haben das Thema, wie man mit dem Verschwinden eines Kindes umgeht, wieder ins Zentrum des öffentlichen Fokus gerückt.

Selbst wenn das Kind wieder auftaucht, wie Vanessa, dauert es lange, bis alle dunklen Stellen der Geschehnisse ausgeleuchtet sind. Auch Petra Baumann ist noch nicht so weit. Anfang Juni hat die Polizei ihre Tochter aufgegriffen, nachdem sich Hinweise aus dem Internet verdichtet haben. Der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft, mit ihrer Tochter will Baumann vorerst nicht über Details sprechen. „Wir erwarten eine Psychologin, die Vanessa für das Verfahren befragt, da kommt alles hoch – momentan will ich einfach ruhig schlafen.“

Die seltsame Nähe zwischen Baumanns Exfreund, einem 43-jährigen Fernfahrer, und Vanessa, dem frühreifen Teenager, hatten Freunde und auch Baumann selbst schon davor bemerkt. Doch den Fragen der Mutter verschloss sich Vanessa. „Ich kam nicht mehr an sie heran, auch in der Schule gab es nur noch Probleme“, erzählt Petra Baumann. „Aber wenn man mit jemandem Tisch und Bett teilt, mag man sich nicht vorstellen, dass er an allem schuld ist.“

Totale Ohnmacht. Irgendwann eskalierte die Situation: Petra Baumann zog ins Frauenhaus und brachte ihre Tochter bei deren leiblichem Vater unter. Dann kam jene Nacht, in der sich Vanessa entschieden haben muss zu gehen: Sie gab an, bei einer Freundin übernachten zu wollen. Am Morgen war sie weg. Petra Baumanns Exmann soll sie abgeholt haben – so lautet Baumanns Version. In den Wochen danach hielt sich Vanessa bei flüchtigen Bekannten auf. Wochen, in denen Petra Baumann ihrem Job längst nicht mehr nachgehen konnte. Die „totale Hilflosigkeit“ quälte sie; die Ohnmacht, in die bizarren Geschehnisse, die ihre Familie auseinandergerissen hatten, nicht mehr eingreifen zu können.

Was Petra Baumann in den viereinhalb Monaten durchgemacht hat, lässt sich aus psychologischer Sicht als eine Art unvollendeter Trauerprozess interpretieren. Vier Phasen der Trauer hat der britische Psychoanalytiker und Kinderarzt John Bowlby, ein Vorreiter bei der Erforschung von Eltern-Kind-Beziehungen, identifiziert: Nach dem ersten Gefühl betäubter Ohnmacht folgt eine Phase der aktiven Suche nach der vermissten Person, die bei Erfolglosigkeit in Verzweiflung und schließlich in einer Reorganisation des Lebens der Zurückgebliebenen mündet. Diesen Zustand der Entwicklung können Eltern vermisster Kinder jedoch selten erreichen, meint die Psychologin Andrea Hochfilzer-Winter, die für die Caritas unter anderem Flüchtlinge betreut, die ihre Kinder auf dem Weg nach Österreich verloren haben: „Dieser Trauerprozess, der nie vollendet werden kann, führt zu Dauerstress“, so Hochfilzer-Winter. „Eine Verlusterfahrung, die eigentlich keine ist, kann man ja schwer verarbeiten.“

Schwieriges Loslassen.
Wie ein Mensch längerfristig mit der Abgängigkeit seines Kindes umgeht, ist letztlich eine Frage seiner psychischen Ressourcen, des individuellen mentalen Energiehaushalts. Und eine Frage dessen, ob man sich selbst zugesteht, „auch mal ein bisschen loszulassen“, so Hochfilzer-Winter. Oder eben nicht. Mancher ihrer Klienten können sich nie von ihrem verlorenen Kind trennen – auch wenn dieses nicht vermisst, sondern verstorben ist: „Eine Klientin hat noch jahrelang den Tisch für ihren toten Sohn mitgedeckt, jeden Tag.“

Strukturell ähneln die Emotionen, die Eltern nach dem Verschwinden ihres Kindes erleben, dem Verlauf eines Traumas. Dabei ist vor allem das intensive Gefühl der Verlorenheit für langfristige Auswirkungen auf die Psyche der zurückgebliebenen Eltern verantwortlich. „Die starken negativen Gefühle aktivieren ein System im Gehirn, dass dafür sorgt, dass sich die Angst festsetzt“, so die Psychologin Sandra Gerö, die sich auf die Betreuung von Gewaltopfern spezialisiert hat. „Die Betroffenen durchleben diese Situationen der intensiven Angst dann immer wieder“, so Gerö. Schuldgefühle der Eltern, sich eventuell zu wenig um ihr Kind gekümmert zu haben, versteht sie als Mechanismus, um die Kontrolle über das eigene Gefühlschaos zu gewinnen: Wenn niemand die Frage beantwortet, warum das eigene Kind verschwunden ist, beantwortet man sie eben selbst. Wenn auch mit Selbstvorwürfen.

Oder das Umfeld macht dies mit ebenso vorwurfsvoller Haltung. Vor allem den Gewaltopfern unter ihren Klienten begegne nicht selten die Einstellung, sich der Gefahr selbst ausgesetzt zu haben, erzählt Gerö: „Das ist auch ein Art Selbstschutz der Außenstehenden, weil sie sich damit einreden, ihnen selbst könne nie ein Verbrechen geschehen – oder weil sie einfach die ständige Konfrontation mit dem Leiden der Eltern nicht mehr aushalten.“

Verdrängen „gesund“. Das Verschwinden eines Kindes zu verarbeiten, hält Gerö für schwierig – und oft gar nicht für den besten Weg, um ins normale Leben zurückzufinden: „Seit Freud sagt man, Verdrängen ist schlecht, aber nicht umsonst können manche Holocaustopfer heute normal leben.“ Verdrängen statt verarbeiten also – für Gerö in drastischen Fällen eine „gesunde Strategie“.

Das Verdrängen seltsamer Beobachtungen in der eigenen Umgebung hingegen hält Gerö für kontraproduktiv: „Sich bei Fernsehberichten über vermisste Kinder ein bisschen mitzugruseln, das reicht nicht.“ Stattdessen gelte es, die Augen offen zu halten und bei den eigenen Kindern anzusetzen, sie zum Neinsagen zu ermuntern, „auch zu Personen aus dem nächsten Bekanntenkreis; da passieren immer noch die meisten Delikte“.


Neues Kompetenzzentrum. Im Bundeskriminalamt werden derzeit die Grundzüge eines Kompetenzzentrums für Vermisste entworfen, das im Herbst seine Arbeit beginnen soll. Derzeit scheinen im elektronischen Informationssystem der Kriminalpolizei 750 Personen als abgängig auf, 200 davon sind unter 18 Jahren alt. Die Zahlen erfassen jedoch auch jeden Jugendlichen, der übers Wochenende oder wegen schlechter Schulnoten kurz verschwindet (was laut Polizei zu Schulschluss nicht selten passiert). Die Zahl unterliegt also starken Schwankungen. Beim Wiener Landespolizeikommando schätzt man, dass in Wien derzeit rund 40 Minderjährige abgängig sind.

Peter Schuller, der als Privatdetektiv seit Jahren Menschen bei der Suche vermisster Personen unterstützt, erhofft sich von dem Kompetenzzentrum auch eine Zusammenarbeit mit seinem Verein „Personensuchpool“ – „überlegt“ werde dies, so Schuller. Dass in Deutschland viel mehr Internetinitiativen zur Suche vermisster Kinder existieren, stimme zwar, aber: „Viele stellen Fotos online, aber suchen sonst nicht.“ Manchmal sucht die virtuelle Community allerdings auch selbst: Petra Baumann haben Hinweise von Usern rund um die Seite vermisstekindersuchen.com zu ihrer Tochter geführt. Wenn auch das Verfahren noch aussteht – Vanessa ist zurück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2011)

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