Rechnungen, die die Welt veränderten Drittes Beispiel: Mathematik und Farben

Es gibt gute Argumente dafür, dass die moderne Physik nicht mit Albert Einstein und nicht mit Max Planck, sondern mit dem Schreib- und Rechenlehrer Johann Jakob Balmer begonnen hat.

Quergeschrieben

Eine Fülle von Errungenschaften der modernen Technik, sei es der Laser, der in tausenden Geräten Verwendung findet, seien es Halbleiter in elektronischen Bauteilen, seien es die Produkte der Chemie, fußt auf der modernen Physik. Meistens setzt man deren Beginn um 1900 mit der Entdeckung des Wirkungsquantums durch Max Planck an, oder um 1905 mit der Formulierung der Relativitätstheorie und der Deutung des Photoeffekts durch Albert Einstein. Doch es spricht einiges dafür, ihren Anfang schon mit 1885 festzulegen.

In jedem Fall war es das Licht, das den Weg zur modernen Physik öffnete. Newton, der glaubte, Licht bestehe aus Teilchen, entdeckte, dass sich weißes Licht aus den Farben des Regenbogens zusammensetzt. Im 19.Jahrhundert war man vom Wellencharakter des Lichts überzeugt, denn es gelang, von jeder Farbe eine „Wellenzahl“ zu messen, die Zahl der Aufs und Abs innerhalb eines Meters.

Schließlich stellte man fest, dass hoch verdünnte Gase, elektrisch angeregt, in für das Gas charakteristischen Farben strahlen. Beim leichtesten und einfachsten Element, dem Wasserstoff, sind dies ein langwelliges Rot mit Wellenzahl 1523310, ein Türkis mit Wellenzahl 2056410, ein Aquamarin mit Wellenzahl 2303240, ein Blau mit Wellenzahl 2437290 und ein kurzwelliges Violett mit Wellenzahl 2518130.

Zwanzig Jahre lang blieb es ein Rätsel, warum das Wasserstoffatom just in diesen Farben leuchtet. Alle Versuche, sich das Atom als schwingenden Körper zu denken, versagten kläglich. Kein noch so ausgeklügelt gedachtes Atommodell kam den Messresultaten auch nur annähernd nahe. Erst der an der Unteren Töchterschule in Basel unterrichtende Schreib- und Rechenlehrer Johann Jakob Balmer löste 1885 das Problem.

Er konnte dies deshalb, weil er kein Physiker war und sich nicht mit mechanischen oder elektrischen Modellen belastete. Er ging allein von den genannten fünf Zahlen aus, und sonst von gar nichts. Wie einst Pythagoras glaubte er, aus ihnen geheime Botschaften entnehmen zu können.

So ist zum Beispiel auffällig, dass die Wellenzahl von Blau dividiert durch die von Rot praktisch genau mit dem Verhältnis acht zu fünf übereinstimmt. Leider ist hier nicht der Platz, Balmers einfache und zugleich trickreiche Manipulationen zu erläutern. Es genügt festzustellen, dass er zu einer bestechend schönen Formel gelangt ist, die praktisch nur aus den Quadratzahlen 4, 9, 16, 25, 36, 49 besteht und gleichsam wie von selbst die oben genannten Wellenzahlen liefert.

Es ist bezeichnend, dass kein wie immer geartetes Modell beim Auffinden dieser Formel Pate gestanden ist. Die Gesetze der Quantenphysik mithilfe von Modellen aus dem täglichen Leben zu verstehen gelingt nämlich nie. Nur in schmalen Teilbereichen darf man sich hinkender Vergleiche bedienen; weitet man sie aus, handelt man sich Paradoxien ein. Darum sagte einst Niels Bohr, wer behaupte, die Quantentheorie verstanden zu haben, verstünde sie nicht.

Einerseits ist es bewundernswert, dass wir in den Farben der Natur Rechengesetze mit den Quadratzahlen zu finden vermögen. Andererseits hilft das Auffinden einer Formel manchmal wenig, wenn man nach „wirklichem“ Verstehen verlangt. Will man über Balmers Formel hinaus „wirklich“ verstehen, warum ein Atom gerade so strahlt, antwortet der Mathematiker mit verlegenem Lächeln.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2011)

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