Wer den Nobelpreis verdient hätte und ihn nicht bekam
Die Geschichte des Literaturnobelpreises ist eine Geschichte der Irrungen. Einige große Literaten wurden nicht ausgezeichnet, oft aus profanen Gründen.

Die Geschichte des Literaturnobelpreises ist eine Geschichte der Irrungen. Das fängt schon 1901, im ersten Jahr der Vergabe, an. Leo Tolstoi (1829 - 1910) war nominiert, doch die Auszeichnung ging an den heute völlig unbekannten Franzosen Sully Prudhomme. Im Folgejahr unterlag Tolstoi dem Deutschen Theodor Mommsen. Zu exzentrisch, zu anarchistisch fand die Jury den Russen. Manche glauben, es lag schlicht daran, dass Schweden nicht das beste Verhältnis zum Riesen im Osten hatte. Text: Heide Rampetzreiter
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Auch bei Tschechow soll die Nationalität dazu beigetragen haben, dass er keinen Nobelpreis bekam. Der Dramatiker und Vater der modernen Kurzgeschichte stammte ebenfalls aus Russland. Stücke wie "Die Möwe" oder "Der Kirschgarten" waren der Nobel-Jury vielleicht auch schlicht zu realistisch und zu wenig moralisch. Denn gerade in den ersten Jahren ging die Auszeichnung oft an Autoren, die einem konservativen Idealismus huldigten.
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Staat, Kirche, Familie und Moral sollten die Autoren in ihren Werken hochhalten, meinte die Königlich-Schwedische Akademie der Künste in den ersten Jahren der Vergabe. Das liegt auch an der Formulierung zum Preis in Alfred Nobels Testament: Der Preisstifter (im Bild) sprach vom "größten Nutzen" für die Menschheit, der Preisträger solle "das Beste in idealistischer Richtung geschaffen" haben.
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Auch der Schwede Strindberg dürfte mit seinen naturalistischen und expressionistischen Werken nicht dem Ideal der Jury entsprochen haben. Außerdem war er einmal wegen Gotteslästerung angeklagt worden und hat sich scheiden lassen.Bild: Ein Porträt August Strindbergs von Edvard Munch
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Ganz knapp am Nobelpreis vorbeigeschlittert ist der norwegische Dramatiker: 1903 hätte er die Auszeichnung erhalten sollen. Nach einem Schlaganfall 1902 ging es Ibsen gesundheitlich schlecht, die Jury sah von der Auszeichnung ab. Schließlich sollte der Preis an einen lebenden Autor gehen - und man befürchtete, dass Ibsen vor der Verleihung sterben würde. Also bekam sein Freund und Landsmann Björnstjerne Björnson den Preis. Den kennt man zumindest in Norwegen noch, denn er dichtete die Nationalhymne.
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Man wollte es offenbar spannend machen: 1907 war Mark Twain für den Nobelpreis nominiert. Doch die Auszeichnung ging überraschenderweise nicht an den berühmten amerikanischen Realisten, sondern an den Briten Rudyard Kipling. Die Fantasie von Kindern haben beide beflügelt: Kipling mit dem "Dschungelbuch" und Twain, mit bürgerlichem Namen Samuel L. Clemens, bekanntlich mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn.
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Ein Arthur Schnitzler, dessen Werke oft um Sex kreisen und die hässlichen Seiten der Menschheit nicht aussparen, passte auch ins konservative Weltbild der Königlich-Schwedischen Akademie der Künste. Schnitzler soll aber vor allem Opfer schlechten Timings geworden sein: Er dürfte 1914 nominiert gewesen sein - wegen des Ausbruchs des ersten Weltkrieges wurde die Vergabe aber abgesagt.
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Der französische Naturalist war der Jury angeblich zu morbid und zu düster - und für eine Auszeichnung lebte er vielleicht nicht lange genug. Er starb 1902 an einer Kohlenmonoxidvergiftung in seiner Pariser Wohnung. Ob es Mord, Selbstmord oder ein Unfall war? Darüber scheiden sich die Geister.
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Wie verkneifen uns Wortspiele mit Prousts berühmtesten Werk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und weisen schlicht darauf hin, dass es genügend Gelegenheiten gegeben hätte, den kränklichen Franzosen auszuzeichnen. Der immens einflussreiche Schriftsteller soll aber zu kontrovers für die Akademie gewesen sein.
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Mit Lyrik hatte es die Nobelpreis-Jury ja nie so. Dass sie Rilke überging, ist aber eine Schmach. 1906 soll der aus Österreich-Ungarn stammende Dichter - neben Twain - nominiert gewesen sein, unterlag aber dem Italiener Giosuè Carducci. Bekanntlich ein Klassiker.
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Ja, man kann es der Nobelpreis-Jury nicht verdenken, dass sie Musil übersehen hat. Das haben viele. Als der Schriftsteller verarmt im Schweizer Exil starb, war das kaum eine Zeitungsnotiz mehr wert. Erst später wurde Musil wiederentdeckt. Mit dem ersten Teil von "Der Mann ohne Eigenschaften" war der Österreicher aber nominiert worden. Heute zählen ihn unzählige Literaten zu ihren Einflüssen.
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Richtig gelesen: James Joyce hat keinen Literatur-Nobelpreis erhalten. Wir wiederholen: James Joyce hat KEINEN Literatur-Nobelpreis erhalten. Der Schöpfer des Jahrhundert-Romans "Ulysses" wurde von der Jury einfach ignoriert. Das war wohl das größte Versäumnis des Komitees.
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Für ihre "reichen und wahrhaft epischen Schilderungen des chinesischen Bauernlebens und für ihre biographischen Meisterwerke" wurde Pearl S. Buck 1938 ausgezeichnet. Viele meinten, Virginia Woolf hätte den Preis damals verdient. Es war eine ihrer letzten Chancen. Von 1940 bis Kriegsende wurde die Auszeichnung nicht vergeben. 1941 nahm sich Woolf das Leben.
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Der Poet hat sich selbst um die Chance auf eine Auszeichnung gebracht: Dass der Mussolini-Fan und Verfasser antisemitischer Propaganda sich auch nach 1945 nicht vom Faschismus distanzierte, brachte ihm keine Sympathien ein. Als er 1961 - im Jahr des Prozesses gegen Holocaust-Organisator Adolf Eichmann - immer noch den Faschismus propagierte, wurde er endgültig von der Liste möglicher Preisträger gestrichen.
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Die Geistererzählung "The Turn of the Screw" (Das Durchdrehen der Schraube) beschäftigt bis heute die Literaturwissenschaftler. James gilt außerdem als Vorbild für die "stream of consciousness"-Technik, die mit "Ulysses" und John Dos Passos "Manhattan Transfer" berühmt wurde. In der angelsächsischen Welt wird er kultisch verehrt.
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Dichten nach dem Holocaust. Die "Todesfuge" ist wohl das eindrucksvollste literarische Denkmal für die Opfer der Konzentrationslager. An vielen von Celans Gedichten beißen sich Germanistik-Studenten bis heute die Zähne aus. Aber wenn man sie einmal begreift, ist das ein überwältigendes Gefühl. 1966 zeichnete das Nobelpreis-Komitee Nelly Sachs ("für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Deutlichkeit interpretieren") und Samuel Agnon ("für seine tiefgründige charakteristische Erzählkunst mit Motiven aus dem jüdischen Volk") aus.
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"Lolita, Licht meines Lebens; Feuer meiner Lenden. Meine Sünden, meine Seele." Nabokovs Roman "Lolita", in dem sich ein alternder Mann in eine Zwölfjährige verliebt, war ein Riesenskandal - und ist ein grandioses Buch. 1974 waren Nabokov, Graham Greene und Saul Bellow nominiert. Der Preis ging an die beiden Schweden Eyvind Johnson und Harry E. Martinson, die selbst in der Nobelpreis-Jury saßen. Das wurde scharf kritisiert. Bellow wurde später ausgezeichnet.
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Der Argentinier war stilprägend für die phantastische Literatur Südamerikas und konnte wie kein anderer "das Universum in einer Streichholzschachtel unterbringen" (Eugenio Montale). Er wartete lange auf den Nobelpreis, doch ausgerechnet aus politischen Gründen soll er ihm versagt worden sein. Borges galt als reaktionär und war skeptisch gegenüber der Demokratie. Und er bedankte sich bei Augusto Pinochet für eine Auszeichnung. Das verzieh man ihm in Schweden nicht. Im Bild: Borges mit Argentinies Ex-Präsident Raul Alfonsin
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Science Fiction ist nicht die Sache der Könglichen Schwedischen Akademie. Sonst hätte sie Stanisław Lem für "Solaris", ein Roman, der seinesgleichen sucht, ausgezeichnet. Oder Philip K. Dick ("Der dunkle Schirm", "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?"). Oder William Gibson ("Neuromancer"). Der lebt zumindest noch.
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Der extrem produktive Schriftsteller war ein Chronist des amerikanischen Bürgertums, enthüllte mit spitzer Feder das Triebleben auf dem Land und in der Vorstadt. Er galt in seinen letzten Lebensjahren immer als heißer Kandidat für den Nobelpreis - doch der blieb ihm verwehrt, ebenso wie Philip Roth und Cormac McCarthy. Diese beiden hätten aber noch eine Chance.
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Man kann über Bernhard sagen, was man will, aber er hat die deutschsprachige Literatur ganz schön umgekrempelt, mit dieser eigenwilligen, musikalischen Sprache, mit diesen überlangen Sätzen, die sich drehen und winden und wenden und, auch wenn man es nicht mehr für möglich hält, noch einmal steigern. Ex-Jury-Vorsitzender Horace Engdahl gab einmal zu, dass Bernhard den Preis "unbedingt verdient" hätte, aber er könne eben nicht posthum verliehen werden.
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Auch für David Foster Wallace machte die Jury keine Ausnahme. "Unendlicher Spaß" (Infinite Jest) heißt das wichtigste Werk des Literaten, der an schweren Depressionen litt und sich mit nur 46 Jahren das Leben nahm. Er galt als Erbe von Thomas Pynchon, dem der Nobelpreis bislang verwehrt blieb. Aber wer weiß: Vielleicht ringt sich die Jury ja doch noch einmal zu Pynchon durch.
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