Weißer als die Weißen

Die Kritik, die Ngugiwa Thiong'o an den politischen Verhältnissen in Afrika übt, ist radikal – und sehr witzig. Sein Roman „Herr der Krähen“ erzählt die Geschichte des Herrschers der „Freien Republik Aburiria“. Eine Warnung: süchtig machende Lektüre.

Da hat man ein Buch von der Form und mit dem Gewicht eines Ziegelsteines in die Hand bekommen, fast 1000 Seiten lang, und fragt sich: Urlaub nehmen, Nachtschichten einlegen oder doch lieber die Finger davon lassen? Ich war unvorsichtig, habe im monumentalen Roman von Ngugiwa Thiong'o zu blättern begonnen und nach 20 Seiten flüchtiger Lektüre gewusst, dass ich meinen privaten Zweiwochenplan vergessen konnte. Denn „Herr der Krähen“ ist eines der witzigsten Bücher, das ich kenne, ein hoch komisches Werk, das von der ersten bis zur letzten Seite mit so aberwitzigen Einfällen gespickt ist, dass ich im stillen Lesen immer wieder von einem lauten Lachen, meinem eigenen, gestört wurde. In der Gegenwartsliteratur gibt es nicht viel zu lachen, beim Opus magnum des 1938 in Kenia geborenen Autors aber ist es angebracht, nein unausweichlich, in das große Gelächter einzustimmen, mit dem er die weißen und die schwarzen Schurken wenigstens für die Dauer seines Romans in die Flucht schlägt.

Immer wenn im Herbst die englischen Buchmacher auf den Nobelpreisträger für Literatur zu wetten beginnen, wird Ngugiwa Thiong'o als aussichtsreicher Kandidat gehandelt. Geboren in einem kenianischen Dorf besuchte er eine Schule der englischen Kolonialherren, studierte später englische Literatur in Leeds und war mit 30 Jahren Professor für Literatur an der einzigen Universität des Landes, in Nairobi. 1963 war Kenia unabhängig geworden, aber schon Jomo Kenyatta, der „Vater der Nation“, hat gemeint, Demokratie passe nicht so recht zu Afrika, und ließ Tausende seiner Kinder, die das anders sahen, ins Gefängnis werfen. Für seinen ersten Roman mit dem Nationalpreis ausgezeichnet, wurde 1977 auch Ngugiwa Thiong'o inhaftiert, und unter Kenyattas Nachfolger Daniel arap Moi, der vom Westen so hofiert wurde wie sein Vorgänger, blieb ihm nichts anderes, als ins Exil nach Großbritannien, später in die USA zu gehen.

Die Kritik, die er in seinen Büchern an den politischen Verhältnissen in Afrika übt, ist radikal. Er, der einst seinen christlichen Vornamen James ablegte und nach seinem vierten auf Englisch verfassten Buch auf Gikuyu zu schreiben begann, prangert schärfer noch als die alten Kolonialherren die neuen, die schwarzen Eliten an. Diese pflegen ihre Länder nicht ohne antikoloniale Attitüde auszubeuten und pochen dabei gerne auf afrikanische Souveränität, worunter sie verstehen, dass sich gefälligst niemand einmischen solle, wenn sie ihre Untertanen schikanieren und ihr Land verschachern.

An Joyce geschult, hatte Ngugi 1977 mit „Verbrannte Blüten“ einen formal komplizierten Montage-Roman vorgelegt, der von der angelsächsischen Literaturkritik mit viel Beifall bedacht wurde. Nach diesem Buch aber wandte er sich von der Literatur der westlichen Moderne ab und der ostafrikanischen Tradition zu, jener Oral Literature, die mündlich tradiert und nicht gelesen, sondern einem teils analphabetischen Publikum vorgetragen wird. „Geschichten“, heißt es über diese Art von Literatur im neuen Roman, „verlieren wie Essen den Geschmack, wenn man sie unter Eile auf zu großer Flamme kocht.“ Mit „Herr der Krähen“ führt Ngugi jetzt beides zusammen: den modernen Roman, wie er sich mit seinem Reichtum an Formen und Stilen in Europa, in den USA entwickelt hat – und die Oral Literature mit ihrer Vielfalt mündlich weitergegebenen Erzählguts.

Entstanden ist so das schlichtweg Sensationelle: eine Art von afrikanischer Volksliteratur auf der Höhe avancierter internationaler Kunstprosa. Am ehesten mag man sich an den Magischen Realismus erinnern, mit dem einst García Marquez, Vargas Llosa, Alejo Carpentier und all die anderen die literarische Welt begeisterten, weil sie Vernunft und Fantasie, Aufklärung und Zauber so sinnlich, elegant und klug zu verbinden wussten. Aber Ngugiwa Thiong'o ist weniger machistisch überspannt als seine lateinamerikanischen Kollegen, dafür ausgelassener, witziger; da die Bewohner der reichen Hemisphäre das Lachen verlernt haben, werden sie es neu vielleicht von den Afrikanern lernen.

Über die „Freie Republik Aburiria“ herrscht ein Despot mit seinem Klüngel, der in einer Staatspartei zusammengefasst ist, die sich der Einfachheit halber gleich „The Ruler's Party“ nennt. Im Hohn- und Schreckensbild des Staates Aburiria ist Kenia zu erkennen, aber die Parabel zielt über Ngugis Heimat hinaus, steht Aburiria doch parabelhaft für das postkoloniale Afrika selbst, das sich ein Joch auferlegt hat, welches es in den Kämpfen gegen die kolonialen Herrn gerade erst abgeschüttelt zu haben glaubte. Die überlebensgroße Figur des Diktators ist daher nicht nur mit Eigenschaften des 25 Jahre lang über Kenia herrschenden Daniel arap Moi ausgestattet, sondern auch mit Obsessionen anderer Despoten des Kontinents, von denen manche noch schlimmer wüteten als dieser.

Der Diktator des Romans hat keinen Namen, wird von den Schmeichlern, die er gegeneinander ausspielt, mit „Seine Allmächtige Vortrefflichkeit“ angesprochen und ist ein einsamer Kümmerling, der sich in seinem Palast vor allen fürchtet, vor den Massen, die regelmäßig zu Huldigungen abkommandiert werden, vor seinen Getreuen, vor allem aber vor seiner Ehefrau Rachael. Die hat er, weil sie die einzige ist, die ihm zu widersprechen wagt und um seine Lächerlichkeit weiß, auf ein abgelegenes Gut verfrachten lassen, gleichwohl zählt zu den vielen Ehrentitel, die er stolz beansprucht, auch der des „Ehemanns Nr. 1“ der Nation.

Alle fürchten ihn aus Liebe und verehren ihn aus Angst: sein Außenminister Machokali, der sich an den Augen operieren lässt, damit „sie die Größe von Glühlampen“ bekommen und er für seinen Präsidenten besser sehen kann; der Innenminister Sikokuu, der Machokali aus tiefsten Herzen hasst und dessen Ohren auf die Maße von Schalltrichtern vergrößert werden, damit er das Volk besser ausspionieren kann; oder der Informationsminister, der anglophil Big Ben Mambo heißt und dem die Zunge seit einer missglücken Verlängerungsoperation schlingernd aus dem Maul hängt. Übrigens haben alle Hofschranzen ein Geheimnis: Sie werden, schwarz zur Welt gekommen und in einem Land zu Macht, Einfluss, Geld gelangt, das sich als Vormacht des schwarzen Kontinents berühmt, vom einem unaustilgbaren Gefühl der Minderwertigkeit gequält und sehnen sich danach, weißer als die Weißen zu werden.

Das hindert sie nicht daran, periodisch die Re-Afrikanisierung der Kultur zu propagieren. In einer politischen Krise erlässt der Diktator, der jetzt „Magnus Africanus“ heißt, lauter Dekrete zur Rettung urafrikanischen Traditionen: Er führt die Prügelstrafe für aufsässige Ehefrauen ein und rehabilitiert die zuvor noch verfolgten Heiler, Medizinmänner und Zauberer, für die er die vom westlichen Psychiater abgeleitete Berufsbezeichnung „Afrochiater“ einführt. Sein gelehrigster Schüler ist der Emporkömmling Tajirika, der ihn am Ende beseitigen und an seine Stelle treten wird; insgeheim hat dieser sich in einer amerikanischen Spezialklinik bereits gegen seine schwarze Krankheit behandeln lassen, was insofern nur geteilten Erfolg hatte, als er am Ende gesprenkelt ist, der rechte Arm und das linke Bein wurden weiß, der linke Arm und das rechte Bein blieben schwarz.

Der Aufstieg des Bauunternehmers Tajirika begann, als der Diktator die Idee hatte, den höchsten Turm der Welt zu errichten, der bis an die Himmelspforten reichen sollte, damit das stolze Aburiria in der Welt die ihm gebührende Anerkennung finde und er selbst „jeden Tag bei Gott persönlich vorbeischauen“ könne. Kaum war das Projekt bekannt geworden, bildeten sich vor dem Büro des mit der Planung beauftragten Tajirika zwei rasch anwachsende Schlangen. In der einen stehen die Leute an, die Schmiergeld abgeben wollen, um Aufträge zu erhalten, in der anderen die Arbeitslosen, die sich einen Job erhoffen. Nach einigen Tagen sind die Schlangen so lang, dass der Motorradfahrer, der nachschauen soll, wo sie enden (oder anfangen), erst nach Monaten entkräftet zurückkehrt. Wie man die Schlangen der Wartenden propagandistisch als „Zustimmungsschlangen“ ausgeben könne, darüber wird im inneren Machtzirkel debattiert, der auch zur Kenntnis nehmen muss, dass es im Lande bereits eine dritte Schlange gibt, die immer länger wird: Es sind die rivalisierenden NGOs, die sich um die karitativen Projekte prügeln.

Der Titel gebende „Herr der Krähen“ ist ein junger arbeitsloser Akademiker, der in eine Bettlerdemonstration gerät und durch eine Serie von Zufällen den Ruf erwirbt, über Zauberkräfte zu verfügen. Mit schlagender Schärfe der Satire zeigt Ngugi, dass der Wunderglaube die afrikanische Gesellschaft noch immer bestimmt. Mit den großen Religionen bildet er höchst seltsame Legierungen, aber auch alle neuen politischen und ökonomischen Lehren durchdringt er und macht sie so erst richtig kenntlich: Börse und Hokuspokus, Neoliberalismus und wundersame Geldvermehrung – was würde besser zusammenpassen als der entfesselte Finanzkapitalismus und ein archaisches Verständnis von der Welt, den Dingen, den Menschen?

So ruft auch der Diktator, als eine rätselhafte Krankheit von seinem Körper Besitz ergreift, nach dem Herrn der Krähen, dem Wunderdoktor, der es mittlerweile freilich mit der Volksbewegung der oppositionellen Frauen hält. (Die Frauen sind bei Ngugiüberhaupt meist aufgeklärter und mutiger als die Männer.) Die Krankheit befiel den Diktator, als er in den USA weilte, um Investoren der „Global Bank“ für sein Bauvorhaben zu gewinnen.

Es dauerte eine Weile, bis Seine Allmächtige Vortrefflichkeit begriff, dass der amerikanische Präsident in Washington nicht ihm zu Ehren eine große Party gab, sondern er nur einer von Tausenden Gästen einer Wohltätigkeitsveranstaltung war, mit der jener Geld für seinen Wahlkampf zu akquirieren versucht. Dann aber fährt der Dämon der Wut in den Magnum Africanum, und der Überdruck der gekränkten Seele beginnt seinen Körper aufzublähen, „bis er in die Luft steigt“ und wie ein Fesselballon gegen die Decke schlägt. Ein findiger Höfling malt um ihn herum einen himmlischen Baldachin, sodass der in seiner Wut an die Decke gegangene Despot nun erst recht wie eine Gottheit anmutet – „ein gutes Beispiel für engagierte Kunst“.

Dieses (von Thomas Brückner glänzend übersetzte) Buch ist eine Zumutung: Aberdutzende Figuren, zahllose Erzählstränge, groteske Einfälle, grimmige Volten, kluge essayistische Abschweifungen . . . Eine Warnung zum Schluss: Wer „Herr der Krähen“ zu lesen beginnt, wird damit nicht aufhören können, bis er ans Ende gekommen ist, und sei es, dass er dafür Urlaub nehmen oder Nachtschichten einlegen muss. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2011)

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