Das Rätsel bleibt

Niemand kommt um sein Werk herum, keiner darüber hinweg. Wer war eigentlich Heinrich von Kleist, dieser exzentrische Aussteiger und unerbittliche Stilist, dessen Todestag sich kommende Woche zum 200. Mal jährt? Ein Überblick über die aktuelle Kleist-Literatur.

Es war zu erwarten, dass in diesem Jahr, in dem sich der Todestag Heinrich von Kleists am 21. November zum 200. Male jährt, eine Menge Gedrucktes über ihn erscheinen würde. Es sind in der Mehrzahl Lebensbeschreibungen. Biografien boomen. Bei Kleist aber sollte das lüsterne Interesse an der Person von der Auseinandersetzung mit dem Werk überlagert sein. Wie wäre zu erklären, dass aus einem exzentrischen, ruhelosen Studienabbrecher und Berufsverweigerer, einem permanenten Aussteiger, ein unerbittlich stilsicherer Autor wird? Und nicht irgendeiner, sondern ein einzigartiger, dessen Werk kaum auszuhalten ist in seiner Unbedingtheit. Niemand kommt dran vorbei, keiner kommt drüber hinweg.

Die wenigen „Lebensspuren“ liegen seit Jahrzehnten von Helmut Sembdner gesammelt vor. Es kommt kaum mehr Neues hinzu. Das erleichtert das Schreiben eines Lebenslaufes. Hingegen gibt es viele Leerstellen. Über viele Monate weiß man ebenso wenig wie über den Zweck ausgedehnter Reisen. Darüber lässt sich trefflich spekulieren. Das tun die Kühnen, die Klugen begnügen sich mit Fragezeichen und fügen immer neue hinzu.

Da gibt es zum Beispiel für die ominöse Reise nach Würzburg, die Kleist im Jahr 1800 unternahm, obwohl er eigentlich nach Wien fahren wollte, viele Theorien: medizinische (die heikle Operation einer Vorhautverengung), psychosomatische (Depressionen), politische (Militär- oder Wirtschaftsspionage), gesellschaftliche (Kontakt zu Freimaurern), eskapistische (die Flucht vor der Familie, die von dem 23-Jährigen eine Berufsentscheidung verlangte), existenzielle (die Identitätsfindung als Berufung zum Dramatiker). Alles kann nur vermutet, nichts bewiesen werden.

Bei der kümmerlichen Faktenlage ist es nicht verwunderlich, dass die Fiktionen sprießen. Zumal die fantastischen Entwürfe, enthusiastischen Lebenspläne, angedeuteten geheimen Tätigkeiten in seinen Briefen nicht für bare Münze genommen werden dürfen. Mit zeitbedingt codierten, schwärmerischen Liebeserklärungen und aufdringlichen Belehrungen wollte Kleist seine Briefpartner aus der Ferne beeinflussen, in Sicherheit wiegen oder in Besorgnis um ihn versetzen, auf jeden Fall täuschen.

Da hat nun also einer „Die Geschichte meiner Seele“ entdeckt, die Kleist 1809 in Dresden geschrieben haben soll. Augenzwinkernd teilt uns Raphael Graefe als Herausgeber mit, dass er das Manuskript von einer gewissen Fini aus der Kettenbrückengasse bekommen habe, mit der es gelegentlich immer wieder „zu etwas gekommen“ sei. Und dann flunkert er vergnügt drauf los. Aber das erlahmt rasch, bringt nichts Neues, ist stilistisch ziemlich un-kleistisch und verheddert sich im Gestrüpp zeitgeschichtlicher Details. Keine Vision oder aufregende Irritation des Kleist-Bildes. Und schon gar nicht „Seelen“-Beschreibung, die doch etwas anderes als Lebensbericht wäre.

Tanja Langer fantasiert mit ihrem Roman „Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit“ über die letzten Stunden Kleists und Henriette Vogels, bevor er ihr und sich das Leben nimmt. Ein von vornherein hoffnungsloses Beginnen, die übermütigen Hopsereien, von denen man weiß, um Gedanken und Gefühle, die die beiden hätten haben können, zu ergänzen. Sie fragt sich, was in dieser langen Nacht vor dem verabredeten gemeinsamen Tod alles vorgefallen sein könnte. Bei der Beantwortung der Frage, ob es in dieser Nacht zwischen den beiden „zu etwas gekommen“ ist, bleibt sie diskret bei vagen Andeutungen. Und dürfte richtig liegen, wenn sie Kleist auf die Frage Henriette Vogels, woran er gerade gedacht habe, antworten lässt: „An dies und das.“ So werden Fiktionen unanfechtbar.

Die Germanistin der Universität Venedig, Anna Maria Carpi, hat sich mit einer neuen italienischen Ausgabe der Werke Kleists verdient gemacht und 2005 ein Lebensbild zusammengestellt, das jetzt auch auf Deutsch erscheint. Es ist eine Montage aus „Lebensspuren“, Briefen, Zeugnissen der Zeitgenossen, versetzt mit erfundenen Kleist-Monologen, kommentiert von einer Erzählerin. Leider macht sie sich durch die Angabe verdächtig, sie erzähle „wahrheitsgetreu“, wo man doch allenfalls von Annäherungen an mögliche Wahrscheinlichkeiten sprechen dürfte.

Wenig ergiebig ist auch die Kleist-Biografie von Hans-Jürgen Schmelzer, der mit dem Titel-Superlativ „Deutschlands unglücklichster Dichter“ ein dubioses Ranking eröffnet. Auch nimmt er Kleists Behauptungen als tatsächliche Begebenheiten hin. Bei Werkinterpretationen fasst er sich kurz und begnügt sich etwa damit, seine ehemaligen Kollegen, die Deutschlehrer, aufzufordern, den „Michael Kohlhaas“ doch wieder in den Kanon der Schullektüre aufzunehmen.

Wesentlich genauer und auf wohltuende Weise behutsam geht Jörg Aufenanger mit seiner schmalen Studie über die 40 Tage vor, die Kleist im Januar und Februar 1803 auf dem Gut Christoph Martin Wielands in Oßmannstedt bei Weimar verbracht hat. Das ist ein insofern für Kleists Leben entscheidender Zeitraum, als er hier durch den Enthusiasmus, mit dem Wieland in dem jungen Mann einen Dramatiker begrüßt, ermuntert wird. Ein deutscher Sophokles oder Shakespeare könne er werden und damit das Drama zu einer Vollendung führen, die selbst Goethe und Schiller nicht erreicht hätten. Diese Ermutigung hat Kleist gebraucht. Jetzt ist sein Weg vorgezeichnet. Auch wenn er den „Guiskard“, der Wielands Begeisterung auslöste, verbrannt haben sollte und Wieland auch seinen späteren Arbeiten nicht mehr zustimmte, so sind doch diese wenigen Wochen lebensentscheidend geworden.

Eine weitschweifige Biografie hat Peter Michalzik, Redakteur der „Frankfurter Rundschau“, geschrieben, dem schon lockere, fesselnde Bücher über Gründgens und Unseld zu danken sind. Er wird für die Entdeckung gepriesen, dass Kleist die Position der sterbenden Partnerin einem Gemälde von Simon Vouet nachgestellt habe. Aber das schreibt auch Tanja Langer in ihrem Roman.

Die Darstellung des militärischen Alltags in der Garnison hat man so detailliert noch nicht gelesen wie bei Michalzik. Auf Kleists Briefe fällt er nicht herein, er weiß um ihre fiktionale Potenz. Auf intensive Werkanalysen verzichtet er, belässt es bei wenigen, inspirierenden Paradoxien, wie über die „Marquise von O.“ und „Penthesilea“: Kleist „erfand so etwas wie die unschuldige Vergewaltigung und die mörderische Liebe“. Und er versucht auch nicht, das Werk aus dem Leben zu erklären. „Das Rätsel seines Schreibens ist ungelöst.“

Mit einer solchen Feststellung gäbe sich Günter Blamberger nicht zufrieden. Der Kölner Germanist ist Präsident der Kleist-Gesellschaft und Herausgeber des Kleist-Jahrbuchs. Eine zusammenfassende Darstellung, vorbereitet durch ein gutes Dutzend Aufsätze seit der Mitte der 1990er-Jahre, durfte man von ihm erwarten. Allerdings erschließt sich die Bedeutung seiner Biografie erst beim zweiten Lesen. Eine heikle Leserschaft könnte sich von allzu saloppen Formulierungen abgestoßen fühlen, wie sie sich auch Michalzik nicht verkneift (von „Niederbügeln“ und „Bauchpinseln“ ist dort die Rede; bei Blamberger von „hinterfotzigem“ Verhalten). Druckfehler wie Creuze statt Greuze sind kaum vermeidbar, die Bezeichnung des Freiherrn vom Stein als „Graf“ ist da schon bedenklicher. Arg wird es bei allzu nachlässigen Inhaltsangaben der Werke. Auch ist das Register unbrauchbar, zu viele Namen werden ausgelassen. Störend ist die Marotte, Kapitel mit verschlissenen, wenn auch einprägsamen Titeln aus anderen Zusammenhängen zu versehen, die aber die Sachverhalte eher überschatten als erhellen: „Die Schöne und das Biest“ meint Käthchen und Kunigunde, als ob Schönheit beim Käthchen wesentlich wäre. „Wie man die Welt zur Kenntlichkeit entstellt“ als Titel über die Darstellung der Komödien und Novellen ist eine allzu wohlfeile, abgenutzte Phrase.

Der Autor will sich der Erörterung der androgynen, homoerotischen Disposition Kleists enthalten, spricht dann aber doch davon, dass Thomas Mann „sexuell ähnlich veranlagt“ gewesen sei. Die Beziehung Kleists zu Wieland verurteilt er als nicht der Karriere förderlich und übersieht deren psychologische Bedeutung. Wenn man solche Abstriche gemacht hat, kann man dazulernen. Blamberger schreibt im Präsens, ohne teleologische Absicht, also scheinbar ohne Wissen um künftige Entwicklungen, Entscheidungen. Er vermeidet Spekulationen und Mystifizierungen und nutzt seine Kenntnis des philosophischen, naturwissenschaftlichen und literarischen Umfelds zur Erklärung der Bedingungen, aus denen das Werk entstanden ist.

Am Rande muss noch ein ärgerlicher Essay des polnischen, deutsch schreibenden Journalisten Adam Soboczynski erwähnt werden, „Vom Glück des Untergangs“. Die Erklärung dieses verquasten Titels bleibt er schuldig. Und er macht den törichten Witz, dass sich der Autor des „Zerbrochenen Krugs“ ausgerechnet neben einem Lokal, das „Stimmings Krug“ heißt, umgebracht habe.

Der Vorgänger Blambergers als Präsident der Kleist-Gesellschaft, Hans Joachim Kreutzer, legt mit einer knappen Monografie die Zusammenfassung seines Kleist-Studiums seit den 1960er-Jahren vor. Man kannte vieles davon schon aus seinem Artikel in Killys Literaturlexikon von 1990 beziehungsweise 2009. Kreutzer korrigiert die bei Kleist und Zschokke ungenaue Beschreibung des Kupferstichs, der die Vorlage für den „Zerbrochenen Krug“ geliefert hat. Er räumt auch mit der Legende vom Wettstreit der Autoren (neben Kleist und Zschokke noch Ludwig Wieland und Heinrich Gessner) um die beste Ausgestaltung des Krug-Stoffes auf. Es könnte sich dabei um eine Manipulation Hermann Zschokkes handeln. Womöglich hat der seine Erzählung „Der zerbrochene Krug“, ein amüsantes Beispiel für den Übergang von graziös-erotischem Rokoko zu verschämt schlüpfrigem Biedermeier, erst nach der Publikation der Kleistschen Komödie geschrieben.

Auch Walter Hinderer fasst seine Kleist-Beiträge der vergangenen 15 Jahre zusammen. Man kann die einzelnen Aufsätze wiederum mit Gewinn lesen, wenn man dem Autor auch in seiner apodiktischen Sicherheit, genau zu wissen, wie Kleist heute denken würde, zu folgen zögert: „Kleist hätte Kafka, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, mit gleicher Begeisterung im Freundeskreis vorgelesen wie Kafka Kleists Anekdoten.“ Hinderer unterlässt es, Erkenntnisse, wie sie zum Beispiel über die „Legende“ „Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik“ inzwischen vorliegen, in seine Analyse von 1998 einzuarbeiten; etwa die Überlegungen zur Thematisierung des Erzählens, die bloß inhaltliche Überlegungen, wer stärker sei: Politik oder Musik, Protestantismus oder Katholizismus, relativiert. Solche Konflikte sind für Kleist Anlass und nicht Ergebnis des Erzählens.

Nachzulesen ist das in den „Kleist-Lektüren“ (2007) des Wiener Germanisten Franz M. Eybl, die einem „sanften Destruktivismus“ verpflichtet sind, also den Sinn bei der formalen Analyse nicht vernachlässigen. Eybl wird in keinem der hier besprochenen Bücher diskutiert, nicht einmal in den Bibliografien erwähnt. Deshalb soll wenigstens an dieser Stelle auf ihn hingewiesen werden. Kleist, sagt Eybl, betreibt „Erschütterungskunst“, die nicht eindeutig ist, die die scheinbar klaren Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Gut und Böse, Sturz und Halt zersetzt und im Dazwischen zweifelhafte Sicherheit sucht. Im Nachvollziehen der Unversöhnlichkeit von Leben und Werk bleibt die Kleist-Lektüre vorrangig und verstörend aufregend. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.