„Wenn ich dich sah, wusste ich, wer ich war“

Sorgerecht: Raoul Schrotts Erzählung „Das schweigende Kind“.

Ein Mann erzählt seiner letztlich verlorenen Tochter seine Geschichte. Die Tochter ist das schweigende Kind im Titel dieser Erzählung. Sie ist stumm, oder „nicht stumm, nein: verstummt“. Die Ärzte sprechen von einem Mutismus, also einem psychogenen Schweigen, bei dem keine Defekte der Sprechorgane und des Gehörs vorliegen. Der Mann, ein Maler, erzählt auch nicht mündlich, auch nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern er schreibt seine Lebensbeichte in einem kleinen Zimmer in einer Anstalt mit Blick auf die Schweizer Alpen nieder. Er muss ihr seine Geschichte, mit all ihren Um- und Abwegen, nacherzählen, vor allem „den Anfang und das, was zwischen uns liegt“, da sie nur um das Ende weiß.

Es ist die Geschichte eines Menschen, der erst so um die 30 herum mit vollerWucht etwas davon erfährt, „was blind im Menschen steckt“, wie er es nennt. Alles änderte sich für ihn, als er die Mutter seiner Tochter kennenlernte, in der Pariser Kunstakademie, wo sie als Modell jobbte und er sie zeichnete. Sie war Masochistin: „Der Schmerz verlieh ihr ein Hier und Jetzt und bahnte für sie erst die Empfindung von Lust an, bannte ihre Gedanken ins Fleisch“, so der Maler, seiner Tochter wegen verpflichtet, „bei der Wahrheit zu bleiben“. So harmlos es begann, so gewalttätig wurde es. Er bemerkte viel zu spät, wie sich ihr Verhältnis drehte, dass bald er es war, der gefesselt wurde, während sie, die Gefesselte, zunehmend „geheilt schien, selbstsicher, fröhlich gar, wenn auch für kurze Zeit“. Ein Paar wurden sie darüber also nicht. Die Gewalttätigkeiten dieser komplizierten „Liebesgeschichte“, deren wöchentliche Versöhnungen „alles Vorige durch ihre Intensität vergessen machten“, steigerten sich, bis er sie einmal fast zu Tode würgte.

Als das Kind neun Monate alt war, beendete die Frau die Beziehung abrupt und brachte einen Antrag auf das alleinige Sorgerecht ein, dem stattgegeben wurde. Jahrelang konnte der Mann sein Kind nicht sehen,das ihm folglich immer fremder wurde – und er sich selber ebenso. Denn auch seine anschließende Beziehung mit Kim war dadurch von vornherein vergiftet und hatte keine Chance.

Eines Tages fand das Kind dann die Mutter erstickt im Bett ihrer Wohnung. Vater undTochter kamen solcherart, bis zum Ende der Ermittlungen, wieder zusammen, erlebten einige Wochen gemeinsamer Euphorie. Er wurde des Mordes verdächtigt, verwirrt gestand er den Mord sogar einmal (hat sich extrem in die Mordszenen hineinsteigern können), widerrief dann, der Fall wurde schließlich offengelassen, das Verfahren eingestellt. Das Kind wurde der Schwester der Mutter übergeben, die ihn offen des Mordes bezichtigte und ihm jeden Zugang zum Kind verweigerte. Sein Selbstverfall war nicht mehr aufzuhalten. Er, der erst bei seinem Kind sich sicher war, was ihn ausmachte („Wenn ich dich sah, wusste ich, wer ich war“), verfiel nun zunehmend in eine vollkommene Apathie.

Raoul Schrott erzählt diese Geschichte einer Ich-Zerstörung in Form eines Selbstbekenntnisses. Er zeigt den letztlich an sich selbst Zerbrechenden, dem allmählich seine Lieben, seine Hoffnungen, seine Halte schwanden, der sich selbst der Schwäche zieh (und so nicht zuletzt die Geliebten verlor), auf seiner mühsamen und beinahe schon heldenhaften Suche nach seiner Wahrheit, nach seiner Wirklichkeit. „Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches“, so der erste Satz der Erzählung, und Raoul Schrott ist ein meisterhafter Arrangeur, der zeigt (mitunter mittels etlicher mythischer Bezüge), dass den intuitiven Erkundungen eines sensiblen Geistes wohl mehr zu trauen ist als der scheinbar objektiven Rationalität, wenn es darum geht, der Wahrheit, oder der Wirklichkeit, auf die Spur zu kommen. Am Schluss des Buches findet sich nämlich noch ein Brief des behandelnden Arztes an die Tochter, der die Rätselhaftigkeit ihres Vaters und die Rätsel um den Tod ihrer Mutter naturgemäß ebenso nicht auflösen kann. ■





Raoul Schrott
Das schweigende Kind

Erzählung. 200 S., geb., € 17,90 (Hanser Verlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2012)

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