Spare in der Zeit, nicht in der Not

Ob die in Europa eingeschlagene Politik der Sparprogramme aus der Krise führt? Paul Krugman bezweifelt das. „Vergesst die Krise!“ heißt seine Streitschrift gegen die staatliche Sparpolitik.

Wir haben eine Krise, und es werden Wege gesucht herauszukommen. Unter vielen Ökonomen herrscht Ratlosigkeit, aber es gibt einige mit wirtschaftstheoretischen Methoden begründete Ansätze zu einer Verbesserung der Lage. So präzis auch diese Theorien ausgearbeitet sind, jede beruht auf einem Narrativ, das auf den Erfahrungen und den Weltbildern der jeweiligen Ökonomen aufbaut.

Der derzeit in Europa betriebenen Wirtschaftspolitik, nämlich, dass vor allem gespart werden muss, scheint ein ökonomischer Theorie fremdes Narrativ zugrunde zu liegen: Es wurde gesündigt, daher muss Buße getan werden. Sofern die Sünder uneinsichtig sind, muss gestraft werden. Die Griechen haben zu viel Kredit genommen und das so erhaltene Geld statt zu investieren mit staatlichen Ausgaben verjubelt – zu viele und zu gut bezahlte Beamte, zu viele Sozialleistungen, die in vielen Fällen zu Unrecht bezogen wurden, zu wenig Steuern bezahlt. Als Tatsache ist das nicht ganz unrichtig. Für Portugal, Italien und Spanien werden etwas andere Geschichten erzählt. Oft werden diese Staaten mit dem Akronym „Pigs“ zusammengefasst. Entsprechend kannmit ihnen umgegangen werden.

Der zentrale Punkt dieser Erzählung: Sünder müssen bestraft werden. Ob denn die eingeschlagene Politik der Sparprogramme aus der Krise führt, ist nebensächlich. Dass die Bevölkerung darunter leidet, ist nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung, sondern Ziel. So, als müsste Läuterung erreicht werden. Im Übrigen: Wenn jemand zu viel Kredit genommen hat, so hat jemand anderer zu viel Kredit gegeben. WennErsteres eine zu bestrafende Sünde ist, dann wohl auch Letzteres. Es gibt aber keine plausible Wirtschaftstheorie, die solche Sparprogramme als hinreichend für eine Überwindung der Krise empfiehlt. Auch den Theorien von Keynes kritisch gegenüberstehende Ökonomen äußern sich mittlerweile skeptisch zu den politisch induzierten Einschränkungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. „The Economist“ und die englische „Financial Times“ weisen regelmäßig auf die Fragwürdigkeit dieser Politik hin.

Das Buch des Nobelpreisträgers Paul Krugman ist eine polemische Streitschrift gegen staatliche Sparpolitik in der gegenwärtigen Lage. Der englische Titel enthält eine Aufforderung zum Handeln: „End this Depression Now!“ In der Übersetzung wird diese Aufforderung ins Gegenteil verkehrt: „Vergesst die Krise!“ Man ist geneigt, Freuds Theorie der Fehlleistungen anzuführen. Mit Krise ist der Abschwung der Wachstumsraten der aggregierten realen Einkommen oder gar deren Rückgang in der Folge der Finanzkrise 2007/08 zu verstehen. Zwar gelang es der Geldpolitik der USA, einen totalen Zusammenbruch der Finanzmärkte zu verhindern, aber die Bereitschaft und die Möglichkeit zur Kreditaufnahme gingen zurück. Durch den Verfall der Preise für Immobilien und von Wertpapieren waren viele Haushalte plötzlich übermäßig verschuldet und
reduzierten ihre Nachfrage nach Konsumgütern. Die Gemeinden und Gliedstaaten in den USA mussten wegen reduzierter Steuereinnahmen die Ausgaben kürzen. Ein Abschwung der Wirtschaft mit steigender
Arbeitslosigkeit war die Folge. Mittlerweile hat Wirtschaftswachstum wieder begonnen, aber die Arbeitslosigkeit geht kaum zurück. Das Wachstum ist zu schwach.

Die Wirtschaft läuft nicht von selbst

Krugman empfiehlt nun, dass der Staat durch verstärkte Nachfrage einspringt. Das entspricht einer traditionell keynesianischen Politik. Die Qualität des Buches liegt in der systematischen Begründung dieser Politik und im Aufgreifen von Gegenargumenten. Vor allem wendet er sich gegen die Vorstellung, dass das Werkel der Wirtschaft von selbst wieder zu laufen beginnt. Sein Argument dagegen: Wirtschaftsabschwünge in der Folge von Finanzkrisen und Immobilienblasen haben immer lange gedauert. Er stützt sich dabei auf innerhalb der Zunft der Ökonomen sehr geschätzte Arbeiten, unter anderem des Chefs der US-Zentralbank, Ben Bernanke. Eine solche Krise ist etwas anderes als ein konjunktureller Abschwung, der das Gefüge der Wirtschaft weitgehend unberührt lässt.

Dieses Argument ist deshalb so wichtig, weil immer wieder gesagt wird, dass Staaten letztlich aus jeder Krise herauskommen. Abgesehen davon, dass man bei solchen Aussagen immer von Staaten ausgeht, die es weiterhin gibt, vergisst man dabei auf die zentrale Aufgabe der Politik: Es muss für die jetzt lebenden Generationen ein gutes Lebengesichert werden, ohne jenes kommender Generationen zu beschränken. Einfach zu sagen, es wird schon wieder werden, man muss nur lang genug warten, ist keine Option für Politik. Es gilt das Wort von Keynes: Auf lange Sicht sind wir alle tot.

Das Buch ist primär für Leser in den USA geschrieben. Es ergreift Partei gegen die von den meisten Republikanern unterstützte Politik der Absage an Konjunkturprogramme, freilich ohne für die Politik Obamas zu werben. Ganz im Gegenteil, Krugman wirft ihm Zögerlichkeit und mangelndes Verständnis für die Schwere der Probleme vor. Die von den Republikanern mit Inbrunst vertretene fundamentale Ablehnung politischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben ist nicht Gegenstand des Buches. Da diese Auseinandersetzung von Europa aus ohnehin nur schwer nachvollzogen werden kann, tut diese Auslassung dem Buch als gut zu lesendes Werk zur wirtschaftspolitischen Diskussion in Europa keinen Abbruch. Es gibt auch ein eigenes Kapitel zum Euro.

Allerdings sind die Fragen der Konjunkturpolitik in Europa erheblich komplexer als in den USA. Es fehlt hier zwar die fundamentalistische Ablehnung zentralstaatlicher Projekte – sogar die Instandhaltung des Autobahnnetzes, vom republikanischen Präsidenten Eisenhower initiiert, stößt auf Schwierigkeiten. Das reduziert Konjunkturpolitik auf Steuersenkungen. In Europa ginge das leichter. Die USA hat aber den Vorteil, ein Staat zu sein. Er kann entsprechende Entscheidungen treffen und er kann Ausgabenprogramme finanzieren. Trotz einer ersten Herabstufung durch eine Ratingagentur können die USA sich zu sehr niedrigen Zinssätzen beliebig verschulden, zumindest noch. Vom Kapitalmarkt her droht einem allfällig ausgeweiteten Konjunkturprogramm derzeit keine Gefahr.

Krugman fordert Europa auf, entsprechende Programme zu beginnen. Nicht zu bestreiten, dass so eine Politik Vorteile hätte. Aber es gibt Schwierigkeiten. Den Staat Europa gibt es nicht, auch nicht das Euroland. Die EU kann keine großen Ausgabenprogramme entwickeln. Konjunkturprogramme der einzelnen Staaten stoßen auf Schwierigkeiten der Finanzierung. Nicht die EU wird auf den Finanzmärkten von Anlegern bewertet, sondern die einzelnen Staaten werden es. Bis zu einer einheitlichen Union wird es selbst im besten Fall Jahrzehnte dauern.

Es bedarf wohl einer gemeinsamen Politik der Mitgliedstaaten, die freilich in sehr unterschiedlicher Lage sind. Einige Staaten, darunter Österreich, benötigen kaum staatlich induzierte Konjunkturprogramme. Die anderen – können sie nicht finanzieren. Das ist das grundlegende institutionelle Problem für eine Konjunkturpolitik in Europa. Die Konstruktion der EZB ist in dieser Situation nicht hilfreich. Anders als die Zentralbank der USA darf sie den Staaten keinen Kredit geben. Sie macht es über Umwege, indem sie den Banken Kredit gibt, damit sie Staatsanleihen kaufen können. Im Falle Griechenlands hat die EZB jedoch selbst Anleihen übernommen. Man wird nicht darum herumkommen, in der einen oder anderen Form für die Euroländer gemeinsame Anleihen zu schaffen. Das fordert der linke Krugman und der sicher nicht linke „Economist“.

Das Problem bei geldpolitisch unterstützten Konjunkturprogrammen in Europa: Es besteht die Gefahr, dass so weitergemacht wird wie in den vergangenen Jahren. Die Fehlentwicklungen in der Vergangenheit wurden durch den leichten Zugang zu Krediten und die niedrigen Zinssätze für diese begünstigt. Man versteht, wenn Staaten vor einer Wiederholung Angst haben. Es wird wohl nötig sein, die für solche Programme zur Verfügung stehenden Mittel dem Spiel der bisher politisch dominierenden Eliten zu entziehen. Aber wie kann das im bestehenden institutionellen Rahmen Europas gemacht werden? Man kann ja nicht wie 1832 einen deutschen Fürsten auf einen griechischen Thron setzen. Die eingeschlagenen Politiken müssen von der Bevölkerung akzeptiert werden. Mit dem Wohlwollen der EZB und den anderen Staaten der EU ausgestattete neue Ministerpräsidenten in Griechenland und Italien sollten das bewerkstelligen. Das Ergebnis der griechischen Wahlen zeigt die Grenzen dieser Politik auf.

Aber selbst wenn es den Staaten der EU gelänge, gemeinsam Nachfrageprogramme zu entwickeln und durch gemeinsame Anleihen zu finanzieren, blieben grundlegende Probleme unberührt – nämlich die zwischen den Staaten ungleiche Entwicklung. Diese Ungleichheit zeigt sich in den Außenhandelspositionen der Staaten. Die EU insgesamt hat zum Unterschied von den USA kein Problem mit der Leistungsbilanz. Es wird nicht mehr verbraucht als produziert. Es gibt aber Staaten der EU mit Defiziten, denen andere mit Überschüssen gegenüberstehen. Die Defizitstaaten sind innerhalb der EU nicht hinreichend konkurrenzfähig.

Stärkere Länder sollen aufwerten

Das traditionelle Mittel in so einer Situation wäre Abwertung. Die Einführung des Euro hat diese Möglichkeit genommen. Man fordert daher, dass die Löhne in den schwachen Ländern gesenkt werden. Das würde langfristig helfen, aber einige Zeit hindurch die Nachfrageprobleme verschärfen. Im Übrigen ist es politisch kaum durchzusetzen. So geht es nicht, aber vielleicht geht es anders: Da die schwächeren Länder nicht abwerten können, müssen die stärkeren aufwerten. Sie können natürlich nicht die Währungseinheit verändern, aber sie können ihre Arbeitseinheit verteuern.

Wenn die Löhne in den Überschussländern stärker steigen, dann wird die Nachfrage steigen und damit auch die Inflation. Die Staaten mit Überschüssen in der Leistungsbilanz vertragen das. Schließlich, was hat man von diesen Überschüssen, wenn man damit griechische, italienische, spanische Staatsanleihen kauft? Wohl keinen Notgroschen für schlechte Zeiten. Besser kauft man damit mehr Mode, Wein und andere schöne Dinge aus den Defizitländern und fährt vielleicht auch mehr dorthin.

Lohnerhöhungen in den produktiveren Ökonomien können das Ungleichgewicht innerhalb der EU verringern. Man sagt, Deutschland habe schlechte Erfahrung mit der Hyperinflation nach 1918 gemacht. Das sei nicht vergessen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble weiß es besser. Er hat sich vor Kurzem positiv zu stärkeren Lohnsteigerungen in Deutschland geäußert. Es soll dafür gepriesen werden. Krugman, der Schäubles Politik des Sparens scharf kritisiert, würde vermutlich zustimmen. ■


Paul Krugman
Vergesst die Krise!

Warum wir jetzt Geld ausgeben müssen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. 266S., brosch., €25,70 (Campus Verlag, Frankfurt/ Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2012)

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