Der Clown als stummer Zeuge

In ihrem vielschichtigen Roman „Erinnerungen eines Narren“ lässt Marianne Gruber einen jungen Ausreißer einen kleinen Zirkus als Sicherheitsnetz finden. Auf dem Krankenbett blickt er zurück auf sein turbulentes Leben.

Es sind mehrere Parallelgeschichten, die Marianne Gruber in ihrem neuen Roman „Erinnerungen eines Narren“ erzählt und miteinander verknüpft. Vielleicht am berührendsten ist eine Geschichte über das Altern; nicht über sein allmähliches Herannahen, sondern über die Ausweglosigkeit der ultimativ letzten Phase. Es ist ein Kampf um Würde und um Akzeptanz des Unausweichlichen. „Wäre schön, auch noch etwas von dem Gefühl zu ergattern, dass man, zwar hinfällig, aber noch nicht völlig verblödet, noch etwas mehr ist als bloß ein beschwerlicher Fall – das wäre ein anständiges Programm.“

Das sagt die Erzählfigur des Romans, ein vom Seil gestürzter Zirkusclown, der das Ende erwartend seine Lebensgeschichte portionsweise einem unsichtbaren Gegenüber erzählt. Diese Lebensbeichte ist gleichsam die zweite Ebene des Romans mit eingebauten Zeitreisen, deren Verankerung in der Realität schwebend ist wie das Bewusstsein des Moribunden.

Gestartet ist er einst als jugendlicher Ausreißer, der als einsamer Hobo durch die Lande zog. Das sieht er im Rückblick durchaus unromantisch, im Erleben freilich schuf er sich einen eigenen Mythos, das „ist selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass so ein Mythos dem Bedeutungslosen Bedeutung schafft“. Eine Art Vergesellschaftung erlebt der junge Mann erst, als er bei einem kleinen Zirkus landet und hier vom eigenwilligen Clown Hieronymo als künftiger Nachfolger adoptiert wird. Das hört sich geradliniger an, als es ist und sein soll, denn was der Erzähler als junger tumber Tor von den zwischenmenschlichen wie politischen Vorgängen rundum verstand und der alte Mann nun erinnert, steht auf schwankendem Boden. Zwar spricht er hartnäckig vom „Wir“ der Zirkusleute, aber nur wenige Figuren erhalten Gesicht und Kontur, wie Rollo, der boshafte Liliputaner, der ein Lebensfreund wird.

Der Direktor und selbst Rahel, die angebetete Seiltänzerin, verschwimmen hinter ihren Funktionsbegriffen genauso wie der Löwenbändiger oder der Bärenführer. Zeitlich konzentriert sich dieser Teil des Buches auf die Jahre im Schweizer „Exil“ während des Nationalsozialismus. Die Truppe landet hier zufällig, aber fortan ist es ein Kampf ums Überleben und um Arbeitsmöglichkeit. Akte der Feindseligkeit und des Verrats
begegnen ihnen genauso wie solche der
Solidarität. Der Versuch, einem illegalen Flüchtling zu helfen, wird ihnen fast selbst zum Verhängnis, stellt eine Auslieferung für einige der Mitglieder doch eine existenzielle Bedrohung dar. Für Rahel und Rollo etwa, und dem jungen Clownschüler selbst droht der Einberufungsbefehl. Dazu kommt es nicht, aber doch zu einer tragischen Schuld am Tod seines Vaters, der vom Regime für den fahnenflüchtigen Soldatensohn zur Rechenschaft gezogen wird.

Die NS-Geschichte bildet auch den
Boden für den dritten Handlungsstrang rund um den „Anderen“, der durch die Zeiten streift und als „stumme Zeugen“ des menschlichen Leids Kooperationspartner unter den Menschen braucht, um diese Berichte „zerbrechlichen Lebens“, auch mit kleinen historischen Andenken, erinnerlich zu halten. Freilich merkt der Zyniker Rollo mit Recht an, dass der „Andere“ nur „Katastrophen einsammelt“. Dabei ist er weniger wählerisch als die Teufelsfigur, die Michael Stavarič 2008 in seinem Roman „Magma“ erfand, der nur an Wasserkatastrophen interessiert war. Das Prinzip des Bösen bleibt eine besondere Herausforderung, und vielleicht ist es kein Versehen, dass die Passage vom Schlaf Gottes, der die Menschheit über die Stränge schlagen lässt, fast wortgleich an zwei Stellen des Romans stehen geblieben ist. Der Clown aber, so die Autorin, ist für die Rolle des „stummen Zeugen“ prädestiniert, „weil sich Narren erinnern und berichten werden, später, später“.

Das eröffnet die vierte Handlungsebene, die Gruber in einem intellektuellen Parcours für Zeitreisen zu historischen Schauplätzen, etwa den brennenden Scheiterhaufen der Inquisition, ebenso nutzt wie zur Neulektüre antiker und literarischer Mythen. Archimedes könnte ganz anders gestorben sein, die Geschichte von Sisyphos lässt sich völlig neu denken, ebenso wie jene von Theseus' Schuld am Selbstmord seines Vaters Aigeus. Oft genügen minimale Handlungskorrekturen, um ganz andere Deutungsräume zu eröffnen. Romeo und Julia lässt die Autorin zwar den im Originaltext nicht vorhandenen Balkon – der ist ein Fenster –, aber sie unterlegt den Liebenden eine radikal heutige Motivation für den gemeinsamen Liebestod. Und auf Romanebene „stimmt“ sie einfach, denn Shakespeare selbst gibt hier zu, dass er, wie auch im Fall Othello, nicht die „wahre“, sondern eine dem Publikum zumutbare Version der Geschichte verfasst hat.

Wie abgründig der Trost ist, der dem Konzept eines ohnmächtig-erinnernden Zeugen im Angesicht der Gestapo-Keller innewohnt, hat Günther Anders in seinem Roman „Die molussische Katakombe“ an den Rand des Erträglichen geführt. Marianne Grubers „Erinnerungen eines Narren“ breiten ein milderes Licht darüber, das vom nahen Tod der Erzählfigur herkommen mag. „Es ist zum Lachen. So viel Mühe ein Leben lang, das Seine beisammenzuhalten, und dann bleibt nichts als diese Ansammlung von Lücken und Lügen, die allmählich ineinanderfließen“, sagt der Clown zu seinem stummen Zuhörer, der wohl ausersehen ist, diese Rolle weiterzutragen. ■





Marianne Gruber
Erinnerungen eines Narren

Roman. 316S., geb., €22,90 (Haymon Verlag, Innsbruck)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2012)

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