Es ist nicht mehr die Zeit für große Reden

Die Atmosphäre bei der Antrittsrede im Plenum des Europaparlaments gilt als Gradmesser für den EU-Ratsvorsitz.

BRÜSSEL. Selbst dem abgebrühten Redner Wolfgang Schüssel war bei seiner Ansprache im Europaparlament in Straßburg ein wenig Nervosität anzumerken. Denn ob die Europaabgeordneten bei den traditionellen Antritts- und Abschiedsreden der EU-Ratsvorsitzenden die Daumen nach oben oder nach unten strecken, scheint nicht leicht kalkulierbar.

Die Dynamik im Plenum hängt nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Präsentation der Botschaft ab. So hatten die Parlamentarier auf die Rede Tony Blairs im vergangenen Juni überraschend euphorisch reagiert: Die brillante Rhetorik des britischen Premiers ließ viele Kritiker darüber hinwegsehen, dass die nur scheinbar programmatische Rede wenig Substanz bot.

Aber auch die Person und Nationalität des Redners bestimmt die Art der Auseinandersetzung. Tony Blair musste sich harten grundsätzlichen Fragen stellen, während Schüssel vor allem mit dem Budgetbeschluss des Rats konfrontiert wurde. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Großbritannien als großes EU-Mitgliedsland mehr Einfluss zugetraut wird als Österreich, das bei europapolitischen Debatten - abgesehen von der Erweiterung - nicht als Hauptdarsteller gilt.

Die solidarische Reaktion des Europaparlaments auf Jean-Claude Junckers resignativen Abgesang auf den Zustand der EU im Juni 2005 war wiederum auch dem exzellenten Ruf des luxemburgischen Premiers als großen Europäer zu verdanken. Keine Vorschusslorbeeren gab es hingegen für Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi, der im Jahr 2003 seinen Kritikern nicht nur eine schwache Rede, sondern gleich auch noch einen Eklat bot. Berlusconi attackierte den deutschen SPE-Abgeordneten Martin Schulz mit der provokanten Bemerkung, dieser würde sich für die Rolle des "Kapo" in einem Film über NS-Konzentrationslager eignen.

Abseits des Atmosphärischen haben die Reden der EU-Ratspräsidenten selten für politische Wellen gesorgt. Dafür hat sich ein anderer Ort als Garant für spannende Europa-Proklamationen erwiesen: Die Humboldt-Universität in Berlin. Hier hatte der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer im Jahr 2000 mit einer wegweisenden Rede in ein Wespennest gestochen. Zwar beharrte Fischer darauf, dass er seine Gedanken über die Schaffung eines Kerneuropas als "Privatmann" gemacht habe, doch die erhitzten Debatten über die Forderung Fischers nach einer "politisch bewussten Neugründung Europas" mit einer echten europäischen Regierung wollten monatelang nicht verstummen. Im Jahr 2004 distanzierte sich Fischer von seiner bahnbrechenden Rede. Die Anschläge des 11. September und deren Folgen hätten die Idee eines Kerneuropas obsolet gemacht.

Die Zeit der großen Reden zum Zustand Europas scheint vorbei zu sein. In jüngster Vergangenheit greifen Europas Politiker bei der Lancierung ihrer Ideen vermehrt auf Medien zurück. So wurde das 92-seitige Manifest von Belgiens Ministerpräsident Guy Verhofstadt, in dem dieser die Bildung eines Staatenbundes nach dem Vorbild der USA forderte, über ein Interview mit einer französischen Zeitung publik. Frankreichs Präsident Jacques Chirac besann sich indessen Anfang Jänner einer fast antiquierten Vermittlungsform: Seine umstrittene Forderung nach "Pioniergruppen" formulierte er beim traditionellen Neujahrsempfang für Diplomaten in Paris.

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