Trauer um Familie und Bürgertum?

Polemik. Wirklich bewährt haben sich die beschworenen Werte in der Geschichte nicht. Die Beschwörer wissen es.

Die Familie, Keimzelle der Gesellschaft, in keiner Sonntagsrede darf sie fehlen, in der Predigt ohnehin nicht. Und umgekehrt: Die Familie, Hort allen Übels, Verbindung zwischen kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung der Triebe, Wilhelm Reich hat am kräftigsten gewettert. Zwischen diesen Polen schwankt es, seit den 70er-Jahren war die Familie out - definieren wir sie der Einfachheit halber als eine auf das ganze Leben angelegte Gemeinschaft von zwei Erwachsenen mit durchschnittlich zwei Kindern -, nun kehrt sie mit betäubender Wucht im deutschen Feuilleton zurück, im Windschatten von Frank Schirrmachers Buch "Minimum": Der "Spiegel" jammert uns vor, der Gesellschaft komme jede Mitmenschlichkeit abhanden, wenn sie zu wenig Kinder habe - und die verbliebenen Kinder verlören jegliche Orientierung, die Verwahrlosung greife um sich, vor allem die sittliche, am Ende steht einer mit einer Pumpgun in einer Schule und knallt die Mitschüler nieder. Das Gegenmodell und die Rettung hat die "Zeit" parat, sie schwärmt uns - wie es sich für sie gehört, eine Bildungsstufe höher - von etwas anderem vor, von der Suche nach der verlorenen Bürgerlichkeit, die allenthalben die guten alten Sitten wiederbeleben möge, bald wird man sich auch auf den Convenu des Adels besinnen.

Damit ist die Klage um fehlende Kinder und Werte auf neuem Niveau, es hat etwas Positives: Seit Jahren sind Kinder vor allem als ökonomische Faktoren in der Debatte, als Instrumente für unsere Zwecke - Rente! -, so weit ist es mit unseren Werten her. Nun erhalten Kinder Würde zurück, es geht um sie, wenn man es denn glauben will: Im "Spiegel" heißt das, was fehlt, wenn Kinder fehlen, ganz unironisch "Ressource Liebe".

Aber glauben wir es einmal, und fragen wir nach dem Rest: Haben Kinder in Familien (mit Geschwistern) je Orientierung gefunden, und haben die Bürger in ihrer guten alten Zeit gewusst, wie man sich benimmt? Als das Bürgertum noch groß und stark war, 1914, sind seine Söhne mit Hurra in den Ersten Krieg gerannt, die Töchter drückten ihnen Blumen in die Hand, die kollektive Raserei zog alle mit. Und als die einen tot und die anderen bankrott waren, sind die verblieben Söhne der Bürger - auch die des Adels, der noch ganz andere Familientraditionen hatte - in den Zweiten Krieg gerannt, ihr Jubel war nicht mehr gar so laut, aber Sportpalastreden und Wochenschauen wussten ihn zu heben. Pumpgun-Massaker in Schulen hat es nicht gegeben, dafür schafften sie es bis nach Stalingrad.

Bürgertum und Familie haben sich also, milde formuliert, in Stunden der Not nicht eben bewährt, sie haben, pathetischer, den autonomen und menschenfreundlichen Menschen verfehlt, von dem die Aufklärung träumte. Schirrmacher und der "Spiegel" sprechen es ganz offen aus, ihr vereintes Familienlob ist bei näherem Hinsehen eine vernichtende Familienkritik: Die Schlüsselszene spielt 1864 in den Rocky Mountains, am Donner-Pass, Siedler sitzen in der Falle. Sie wollten in den Goldenen Westen, sind eingeschneit, haben kaum Vorräte, verzehren erst die Rinder, dann die Hunde, dann die Nachbarn (das ist umstritten, Archäologen haben das Lager gefunden, aber keine Menschenknochen mit Verzehr-Spuren). Es überlebten, laut Recherchen Schirrmachers und des "Spiegel", hier wie in ähnlichen Situationen, "die Familienverbände. Die Einzelnen, auch wenn sie noch so gut untereinander befreundet waren, kamen um."

Härter kann man es nicht formulieren, in dieser Sicht ist die Familie ist eine Kampfgemeinschaft, wie ein Wolfsrudel vielleicht. Aber von Wölfen geht wenigstens die Sage, sie hätten bisweilen Wildfremde gesäugt, Menschenkinder gar.


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.