Ein leiser Hilferuf: die Selbstverletzung

Psychologie. Immer mehr Schüler verletzen sich selbst, um gehört zu werden.

Wien. Mit der Rasierklinge die Haut einritzen, bestehende Wunden mit Waschpulver bestreuen, sich selbst schlagen, Brandwunden mit brennenden Zigaretten zufügen, die Haare büschelweise ausreißen, sich Verletzungen im Genitalbereich zufügen und krankhaftes Essverhalten: Das alles sind Formen von "selbstverletzendem Verhalten".

Mathilde Zeman, Leiterin der Abteilung Schulpsychologie im Stadtschulrat kennt die Sorge um Kinder und Jugendliche, die sich selbst Wunden zufügen, um sich besser spüren zu können und sich abzulenken: "Es gibt keine absoluten Zahlen, die dokumentieren, wie viele junge Menschen sich selbst etwas antun." Dies liege vorwiegend daran, dass ein Großteil der Verletzungshandlungen im Verborgenen bleibt. Trotz des fehlenden statistischen Materials ist für Zeman aber ein bedrohlicher Anstieg der Selbstverletzungen seit rund zwei Jahren erkennbar.

Das Bildungsministerium spricht indes von groben Schätzungen, nach denen ein bis zwei Jugendliche von 200 an Selbstverletzungs-Tendenzen leiden. Franz Sedlak, Leiter der Abteilung Schulpsychologie im Bildungsministerium sagt im Interview mit der "Presse": "Es sind überwiegend Mädchen betroffen."

Bestehende Aggressionen richten sich bei der Selbstverletzung gegen den eigenen Körper. Zeman: "Dieses Verhalten ist also eine Steigerung zur ,normalen' Aggression gegen andere." Für Zeman steht diese Art des Aggressions-Abbaus in engem Zusammenhang mit gefühlsmäßigen und verstandesmäßigen Problemen. "Wenn mehrere negative Situationen - in der Familie, im Freundeskreis und in der Schule - zusammenkommen, dann bricht das gesamte soziale Stützsystem zusammen." Der oder die Betroffene entwickle dann nur einen Gedanken: "Ich bin schlecht, ich bin nicht liebenswert." Als letzter Ausweg erscheint dann die Selbstbestrafung durch verletzende Handlungen. "Manche verletzen sich auch selber, um eine weitere Verletzung von außen zu verhindern." Denn wer sich selbst Schaden zufügt, dem kann die Verletzung von Anderen nichts mehr anhaben. Auch Franz Sedlak weiß, dass Selbstverletzungen bestehende Anspannungen abbauen können. Deswegen sei es enorm wichtig zu hinterfragen: "Wieso steht ein Kind oder ein Jugendlicher überhaupt unter einem solchen Druck?"

Beide Experten bestätigen, dass die Selbstverletzung vorwiegend in der Spätpubertät - zwischen 14 und 17 - auftritt. Aber auch Fälle von zehnjährigen Kindern, die sich Wunden zufügen, seien bekannt. Zeman schätzt zudem, dass ein Drittel der Betroffenen durch alle sozialen Netze rutschen würden und so das krankhafte Verhaltensmuster bis ins Erwachsenenalter mitnehmen.

Lehrern und Eltern rät auch Zeman sofort zu reagieren und die Betroffenen offen und direkt anzusprechen und in weiterer Folge eine Therapie zu empfehlen. Aus der Praxis weiß Zeman, dass Jugendliche oft Rat bei den Schulpsychologen suchen. Die Abdeckung durch professionelle Beratung an den Schulen ist aber dürftig: Für insgesamt 200.000 Schülerinnen in Wien stehen nur 25 Schulpsychologen zur Verfügung. Deswegen seien auch Lehrer angehalten rasch einzugreifen. Denn obwohl die Selbstverletzung primär keinen suizidalen Hintergrund habe, können einzelne Betroffene Selbstmord als allerletzte Rettung empfinden.


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