Genosse Kanzler, hast Du die toten Kinder gesehen?

Ein Appell an Bundeskanzler Kern, Politik in der Flüchtlingsfrage zu ändern.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Genosse Kern!

Vor Kurzem erreichte uns die Nachricht vom neuerlichen Giftgasangriff in Syrien, mit Dutzenden Toten, darunter auch Kindern. Die Bilder ihrer Leichen brennen sich ins Gedächtnis, lassen viele von uns nicht mehr ruhig schlafen.

Es könnten auch unsere Kinder sein, die da regungslos in Fabrikshallen liegen. Jedes einzelne von ihnen ist ein Mahnmal für die Gräuel des Krieges. Sie sind aber auch Mahnmale für die Ohnmacht der EU und der nationalen Regierungen. Denn diese verantworten, dass ihnen immer noch nicht jene Hilfe zuteil wird, die sie benötigen: sichere Fluchtwege, eine ordentliche Finanzierung der Flüchtlingslager, eine europäische Initiative zur Beendigung des Konflikts.

Parallel dazu verschärft sich der öffentliche Diskurs zu Flucht und Asyl – angeheizt vom Boulevard, der verstärkt mit Inseraten versorgt wird und losgelöst von moralischen Grenzen ungeniert Hetze verbreitet. Es ist diese Hetze, die uns spaltet. Es ist diese Spaltung, die die Politik dazu treibt, vor dem Rechtsnationalismus zu kapitulieren. Ist der Fokus auf „Unsere Leut“ wirklich der Weg, den Du gehen möchtest und bei dem Dich die Menschen ein Stück begleiten sollen?

Schon genug geholfen?

Ich kann Dich auf diesem Weg nicht begleiten. Dabei möchte ich das gern. Aber wie soll ich das mit mir vereinbaren, wenn das gleichzeitig auch die Legitimierung dieses menschenrechtsbedrohlichen Kurses bedeutet?

Meine Familie musste und konnte in den 1970er-Jahren von Chile nach Österreich flüchten. Weil dort der Faschismus den aufblühenden Sozialismus zertrümmerte und mit ihm Zigtausende Existenzen. Wir hatten Glück, die „Festung Europa“ war noch nicht erbaut, die SPÖ empfand es als Auszeichnung, internationale Solidarität zu leben. Heute wäre das nicht mehr möglich. Weil, so höre und lese ich immer öfter, „wir schon genug geholfen haben“. Kann es für uns wirklich eine Obergrenze der Solidarität geben? Kann man den Ärmsten und Schwächsten „genug“ helfen und eine Zahl festlegen, als Grenze des ruhigen Gewissens?

Worauf warten? Kurs ändern!

Wenn ich die Kinderleichen sehe, kann mein Gewissen nicht ruhen. Das betrifft die Giftgasopfer in Syrien, die Ertrunkenen im Mittelmeer und die Verhungerten im Jemen gleichermaßen. Mein Gewissen kann nicht ruhen, solange ich nicht die Gewissheit habe, dass wir als SPÖ alles machen, was möglich ist, um zu helfen. Das machen wir derzeit definitiv nicht. Derzeit schreibst Du für uns Briefe, um zu verhindern, dass wir mehr Minderjährige aufnehmen müssen. Derzeit quälen wir uns durch eine Koalition mit Leuten, die offen die Einschränkung von Grundrechten fordern. Und werden dadurch unfreiwillig zu ihren Mittätern.

Lieber Genosse, lass mich abschließend eine Bitte formulieren. Als Vater eines zwei Monate alten Sohnes, der in einer solidarischen und gerechten Gesellschaft aufwachsen soll: Bitte ändere Deinen Kurs. Schau Dir die Fotos der ermordeten, ertrunkenen, verhungerten Kinder an und dann: Handle! Lass nicht zu, dass unsere Gegenwart als Zeit des Niedergangs der Menschenrechte in die Geschichte eingeht. Lass nicht zu, dass Rechtsnationalismus innerhalb der SPÖ salonfähig wird.

Wenn wir unsere Rolle als Instanz der Solidarität aufgeben und jene des antifaschistischen Bollwerks verlieren, blicken wir einer dunklen, gefährlichen Zeit entgegen. Noch lässt sich das verhindern. Worauf also warten? Es ist Zeit, die Dinge zu ordnen!

Dr. Sebastian Bohrn Mena (32) ist Ökonom und Volksbildner. 2015 führte er einen Vorzugsstimmenwahlkampf für die SPÖ bei den Gemeinderatswahlen in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2017)

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