Spiegelschrift

Türkis-grünes Dramolett? Wende nehmen, wie sie ist!

(c) Peter Kufner
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Nach kritischen Leserbriefen sieht der Chefredakteur einen Erklärungsbedarf. „Die Presse“ sei weder euphorisch noch hysterisch.

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In nervösen Zeiten darf oder muss so etwas gesagt werden, besonders wenn sich die Zeitung in einer Samstagausgabe weit hinauslehnt und auf der Titelseite verkündet: „Gelingt es in Österreich, wird eine Koalition zwischen Konservativen und Grünen auch in anderen Ländern gewagt werden“ und im Leitartikel appelliert: „Bitte europäischer, ökologischer, leistungsstärker! Danke sehr!“ (28. 12.) Das ist fast ein Manifest im Telegrammstil.

Eine Woche später ist alles unter Dach. Die türkis-grüne Regierung steht, deutsche Zeitungen möchten allen Ernstes das neue Modell auf die Bundespolitik in Berlin übertragen, und „Die Presse am Sonntag“ konstatiert: „Diese Zeitung macht sich mit keiner Regierung gemein, auch nicht mit einer guten. Sie verhindert auch keine Regierung, sondern kritisiert und ermuntert sie zu Reformen. Alles andere überlassen wir Parteien, ihnen vorgelagerten Medien oder NGOs“ (5. 1.).

Als Außenstehender merke ich an: So wie viele andere Leser und Leserinnen habe ich nicht übersehen, dass die Zeitung relativ frühzeitig die Möglichkeit einer türkis-grünen Koalition erkannte und eine solche mangels brauchbarer Alternativen als überlegenswert einstufte. Das ist kein Widerspruch zu obiger Feststellung, sondern Teil einer innenpolitisch notwendigen Analyse, die man von jeder Zeitung erwartet. Ich ergänze, dass „Die Presse“ unter hohen Anstrengungen und hohem redaktionellen Aufwand ein Podest in der österreichischen Medienwelt erklommen hat. Wieso? Sie hält sich fern von Kampagnen, ignoriert Aktionsräusche von Donnerstagsdemonstranten und verkauft im Gegensatz zu einer Reihe anderer Medien eigene Vorurteile nicht als Sachargumente.

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Das wogende Auf und Ab bei der Besetzung neuer Regierungsposten samt Anhang kann den Überblick vernebeln. So im Einspalter „Melchior, der medienscheue ÖVP-General“ (4. 1.). In ihm heißt es: „Als Kurz im Jahr 2017 die ÖVP übernahm, nominierte er (Melchior, Anm.) die jetzige Ministerin Elisabeth Köstinger zu seiner Generalsekretärin.“ Wer das liest, wird glauben, Köstinger sei damals Melchiors Generalsekretärin geworden, denn Melchior ist in dem Satz das Subjekt. In Wirklichkeit müsste es wohl sinngemäß heißen: Als Kurz die ÖVP übernahm, nominierte Melchior Elisabeth Köstinger zu dessen Generalsekretärin. Sie war tatsächlich ab Mai 2017 Generalsekretärin der von Kurz geführten Partei. Jetzt ist Melchior der General. Umgekehrt ist es in folgendem Beispiel: Die Polizei hat eine 15-Jährige nach deren telefonischem Notruf am Freitag aus einer Wohnung in Baden befreit. Die Rumänin war von deren in Wien-Favoriten lebender Familie bereits länger abgängig gemeldet“ (14. 12.). Die Rumänin war von ihrer Familie abgängig gemeldet worden.

Die Zerschlagung einer Terrorzelle in Österreich ist eine heikle Sache, über die die Zeitung im Aufmacher berichtet (17. 12.) Da wundert man sich, wenn vor oder hinter dem Artikel „Terrorzelle zerschlagen“ kein Autorenname steht.

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Sigmund Freud bescherte der Stadt Wien, „wo er 47 Jahre gelebt und gearbeitet hat“, den Ruf als eine der Welthauptstädte für Psychologie und Psychiatrie, heißt es in einem großen Artikel der „Presse am Sonntag“ ( 5. 1.). Die 47 Jahre stimmen für sein Leben und Schaffen in Wiens Berggasse. Dort hat er 1891 Quartier bezogen und hielt es bis zur Emigration 1938. Hierher kam er aber schon 1860, als seine aus Mähren stammende Familie nach Wien übersiedelte.

Indiens Botschafterin in Österreich wurde in ihre Heimat zurückberufen, weil sie angeblich „über die Maßen Geld ausgegeben habe“ (31. 12.). Es handle sich um Millionen verschleuderter Rupien. Wie viel Geld kann das sein? Eine Umrechnung fehlt. Die Rupie entspricht rund einem Cent in Euro-Währung, also sind sogar Millionen nicht gar so viel.

„Dieser Fotoworkshop bietet die einmalige Möglichkeit, sich an einem Schließtag des Museums exklusiv, ohne dem üblichen Besucherstrom, ein Bild vom Haus machen zu können (28. 12.). Richtig wäre der Akkusativ: ohne den üblichen Besucherstrom.

„Die Liste Jetzt war von internen Streits geprägt“ (31. 12.). Der Plural des deutschen Wortes „Streit“ wird hier nach englischem Rezept gebildet (31.12.). Das ist kein Sakrileg, aber mit dem Synonym „Streitigkeiten“ wäre die Sache eleganter zu lösen.

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„Presse“-Redakteure scheinen manchmal Selbstzweifel zu haben, denn sie schreiben neuerdings liebend gern das Wort „genau“ hinein. So etwa zwei Mal auf Seite 1: „Wie ist es denn überhaupt genau zu der Sperre (der U1, Anm.) gekommen?“ Und: „Was genau hat der Verfassungsgerichtshof entschieden? (18. 12.). Desgleichen: „Worin genau besteht die Einigung zwischen Stadt Wien und Michael Tojner? (17. 12.) Wer weiß das schon so genau. Das Füllwort allein macht nichts genauer.

Nie würde ich den Präzisionseifer der Journalisten bei ihrer Arbeit grundsätzlich bezweifeln. Aus langer Erfahrung fürchte ich eher um meine eigene Verlässlichkeit, zumal es mir in der Dezember-„Spiegelschrift“ gelungen ist, die ohnedies viel zu kurze Lebenszeit Mozarts durch Vertippen einer einzigen Ziffer seines Sterbejahres 1791 um 20 Jahre auf 1771 zu reduzieren. Die Schwere eines Irrtums hängt offenbar vom Stellenwert ab. Und das ausgerechnet dann, wenn es ohnedies um Mozarts Lebenszeit ging. Ich entschuldige mich und versichere, dass eines jedenfalls weiterhin gilt: Mit jeder öffentlichen Kritik an Fehlern der anderen schwingt mit Sympathie mein Mitgefühl mit.

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In der letzten „Spiegelschrift“ des Jahres 2019 ging es unter anderem darum, dass das typisch Österreichische im deutschsprachigen Raum zunehmend unter Druck gerät. Nicht immer ist jemand schuld daran, denn norddeutsche Begriffe fließen wie Regenwasser herein. In der „Presse“ taucht in einem Kochrezept „Puderzucker“ auf (21. 12.). Puderzucker für den Schminkraum wird nicht gemeint sein, sondern der simple Staubzucker in der Küche. Die Autorin stellt lobenswert die Anmerkung dazu: „Dieses Rezept zur Eiweißverwertung stammt unübersehbar aus einem Marken-Kochbuch (aus dem Jahr 1963): Die Firma Dr. Oetker möchte darin naturgemäß zum großzügigen Einsatz seiner Produkte verleiten, von Backtriebmitteln über Stärke bis zu Aromastoffen.“ Da bleibt kein Platz für regionale Eigenheiten einer Sprache, wohl aber für Grammatik: Die Firma möchte zum Einsatz ihrer Produkte verleiten, nicht seiner.

Selbst der deutsche „Duden“ ist großzügig und kennt nicht nur Staubzucker, sondern so bildhafte Wörter wie „Gewurl“ als „süddeutsch, österreichisch umgangssprachlich“ und „Gewurschtel“ als „landschaftlich umgangssprachlich“. Wie schön. Lediglich das in einem Leitartikel über Korruption gebrauchte Wort „Schlaucherl“ ist noch nicht zu dieser Ehre gekommen (11. 12.).

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist und Mitbegründer der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2020)

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