Lügen für die Wahrheit

Eine junge US-Amerikanerin verkleidet sich als Bub, um in einer pakistanischen Koranschule studieren zu können. In seinem Roman „Gotteskind“ vermengt John Wray eine religiöse Coming-of-Age-Geschichte mit einem wilden Abenteuerroman und einem düsteren Horror-Märchen.

Der Vater irrt. „Für dich ist das alles nur Spaß“, sagt er, als die achtzehnjährige Tochter ihm einen letzten Besuch abstattet, vor ihrer großen Reise nach Pakistan. Aden Grace Sawyer möchte nämlich eine Koranschule besuchen, eine der berühmt-berüchtigten Medresen im Grenzgebiet zu Afghanistan, sie möchte alles zurücklassen, vor allem das als große Leere empfundene Leben im kalifornischen Santa Rosa. Aden verabschiedet sich von dem beschaulichen Städtchen, indem sie noch einmal an den Schaufenstern vorbeischlendert. Als sie „eine Pyramide von Mobiltelefonen, lederne Schutzhüllen für die Handys, dazupassenden Gürtelclips aus Plastik“ sieht, weiß sie genau, warum sie mit dieser Konsumwelt abgeschlossen hat. Es ist ihr bitterernst.

Aden hat sich die langen Haare abgeschnitten, trägt einen weißen Kamiz, das in vielen Ländern Südasiens übliche, knielange Hemd. Sie sieht nicht mehr wie ein Mädchen aus, und das ist wichtig, denn sie wird bald in eine rigide Männergesellschaft eintauchen. Für das weibliche Geschlecht ist die pakistanische Medrese jedenfalls eine Tabuzone. Aden scheint sich nach klaren Verhältnissen zu sehnen, auch wenn sie die Regeln am Zielort letzten Endes doch nicht akzeptiert. Sie ist – und das steht von Beginn des Dramas fest – den Heucheleien und Lebenslügen der Eltern viel näher, als sie sich eingestehen möchte: Der dominante Vater, ein Hochschullehrer für islamische Studien, den Aden durchaus verächtlich mit „lieber Lehrer“ anspricht, schwärmt zeitlebens von den Erweckungserlebnissen in der fernen Heimat, genießt aber das lockere Leben in den Vereinigten Staaten. Seine Gattin hat er oft betrogen, sodass sich das Paar getrennt hat und die gemeinsame Tochter bei der dauerbetrunkenen Mutter aufgewachsen ist,einer Frau, die auch beim Abschied von Aden noch aggressiv und hilflos auftritt.

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