Wir Pharisäer?

„Die österreichischen Bildungs- bürger sind ja teilweise Pharisäer.“ Also sprach jüngst ORF-Generaldirektor Wrabetz. Ich gestehe: Ich halte mich für einen Bildungsbürger. Und ich bin sogar stolz darauf.

Im Anfang war das Wort. Ich bitte, es buchstäblich zu verstehen. „Logos“ hat nichts damit zu tun. Im Anfang war das Wort, diesfalls des ORF-Generaldirektors. Also sprach Dr. Alexander Wrabetz: „Die österreichischen Bildungsbürger sind ja teilweise Pharisäer und schauen sich Sendungen, die sie immer fordern, nicht an.“ Wrabetz fügte auch gleich eine Erklärung an: Bei den jüngsten Opernübertragungen habe der ORF einen höherenMarktanteil bei Grundschulabsolventen als bei Akademikern gehabt. Und den Film „Lostin Translation“ hätten nur 140.000 Zuschauer gesehen. Dies sei „blamabel für die sogenannten Bildungsbürger“, sagte der Rundfunkchef jüngst in einem Interview, das im „Profil“ erschien. Das Magazin hat die, nun, sagen wir: kritische Anmerkung prompt als Titel des Gesprächs verwendet.

Im Anfang ist ein Geständnis. Ich habe denFilm gesehen und ihn, pardon, langweilig gefunden, bin darüber sogar zeitweilig eingenickt. Ich habe also dem Bildungsbürgertum einen überaus schlechten Dienst erwiesen. Denn – ein weiteres Geständnis: Ich halte mich für einen Bildungsbürger. Und ein Drittes: Ich bin stolz darauf.

Obgleich, wie wir längst wissen, der BegriffBildungsbürger pejorativ verwendet wird. Seine Bedeutung ist längst verschlechtert worden. Bildungsbürger – das klingt, ge-
linde gesagt, verstaubt, von gestern stammend. Ein Bildungsbürger weiß mit der Welt von heute nichts mehr anzufangen. Und diese Welt von heute weiß ihrerseits nicht mehr, ob sie überhaupt noch Platz hat für dieBildungsbürger. – Vorersteine Definierung; auch Bildungsbürger wissen, welchen Vorteil sie ausWikipedia schöpfen können. Alsdann: „Unterdem Begriff Bildungsbürgertum versteht maneine seit der Mitte des 18.Jahrhunderts in Europa entstandene einflussreiche Gesellschaftsschicht, die sichdurch humanistische Bildung, Literatur,Wissenschaft und Engagement im Staateauszeichnet. Im Bildungsbürgertum sindakademische und freie Berufe besonders stark vertreten.“

Dem Bildungsbürgertum des 19.Jahrhunderts war „insbesondere eine gesellschaftliche Relevanz“ eigen. Im 19.Jahrhundert, versteht sich. Damals, und auch im 20., ist es angeblich nicht zuletzt für die „Verbreitung einer öffentlichen Meinung“ geeignet und gelegentlich auch verantwortlich gewesen. Es werden am Schluss auch einige Namen genannt, die als typische Vertreter des Bildungsbürgertums gelten können. Und siehe: Thomas Mann ist darunter und auch die Familie Weizsäcker. Aus Österreichs jüngster Geschichte wäre etwa Bruno Kreisky zu nennen. Er hat weniger Nadelstreif-Sozialismus als Bildung repräsentiert. Und natürlich ist auch Michael Häupl nicht zu vergessen. Er besitzt, wie er kürzlich, am „Tag des Buches“, in der Radiosendung „Leporello“ verriet, 10.000 bis 12.000 Bücher (wobei er offensichtlich nicht die Stadtbibliothek meinte). Und er hat, wie er glaubhaft (?) versicherte, 98 Prozent davon gelesen.

Genug des Versuchs einer Definition. Probieren wir die Sache von einer anderen Seite her anzugehen. In welche Kategorie gehört der Bildungsbürger? Ist er ein Bourgeois oderein Citoyen? Gewiss das Letztere. Er ist „politisiert“. Er interessiert sich für die Res publica in allen ihren Facetten. Sogar für die bis zum Überdruss täglich vermeldeten Neuigkeiten über das Eurofighter-Problem.

Er geht auch wählen, der Bildungsbürger. Er weiß, was sich unter dem Begriff „Mitbestimmung“ verbirgt. Er wundert sich demgemäß auch, warum die Hochschülerschaftswahlen eine so minimale Beteiligung aufweisen, wo doch der Begriff „Bildung“ ein so umfassender ist und vor allem die Politik ein höchst notwendiges Interessengebiet, gerade für Studierende – nicht nur, wenn es um Gebühren geht.

Allein, hat nicht auch die Bildung einen Bedeutungswandel hin zum Schlechteren erfahren? Unterliegt nicht auch dieses Wort der Pejoration? Es ist hier nicht der Platz, über den Unterschied zwischen Bildung und Ausbildung zu räsonieren. Außer Zweifel aber steht, dass für viele der Begriff „Allgemeinbildung“ bereits pfui geworden ist. Wos brauch i des?

Dass in den vergangenen Jahren zwei Bücher, die sich gerade mit diesem Thema befassen, zu veritablen Bestsellern geworden sind, freut mich. Dass eines von einem Europäer und das zweite von einem Amerikaner verfasst wurde, ist doppelt schätzenswert. Da gab (und gibt) es etwa das umfangreiche (und gewiss auch umstrittene) Taschenbuch „Bildung“ des Deutschen Dietrich Schwanitz. „Alles, was man wissen muss“, lautet der Untertitel. Anfechtbar, wie mir scheint – einen Kanon des Bildungsstoffs gab es nie und wird es auch in Zukunft nicht geben. Aber dass das Buch so hohe Auflagen erzielte, scheint mir ein Beweis dafür, dass es doch sehr viele Menschen gibt, die meinen, dass sie „des brauchen“.

Der Amerikaner Bill Bryson wieder hat sich mit dem allgemein verständlichen geistigen Nachholbedarf an Naturwissenschaften befasst. „Eine kurze Geschichte von fast allem“, nennt er sein Buch, das nicht nur in den USA in zahlreichen Auflagen erschien. Er hat das, was ihm die Schule gab, als langweiligen Unterricht bezeichnet, als staubtrockene Theorien. „Die Naturwissenschaften blieben für ihn, wie für die meisten Menschen, ein Buch mit sieben Siegeln“, heißt es in der Einführung des Verlags. Schwanitz wieder gibt zu Protokoll, dass „unser Wissen in der Krise“ sei, der alte Bildungsstoff scheine fremd geworden und in Formeln erstarrt, „auch die Bildungsprofis vertreten ihn nicht mehr aus Überzeugung“.

Also „Bildungsmüll“, wie es immer wieder heißt? Sind die Bildungsbürger nichts anderes als Müllstierler? Sind die Menschen, die noch etwas von Allgemeinbildung halten, solche, die dem berühmten Bild von Spitzweg ähneln, wo ein Greis auf einer Leiter steht und ein Buch vor die bebrillten Augen hält? Ich möchte einen Freund zitieren, der zusammen mit mir am Wiener Akademischen Gymnasium maturierte, einen ehemaligen Botschafter. Er mutierte im Ruhestandzum bewundernswerten Privatgelehrten; in einer seiner Schriften fand ich eine Erklärung von „Allgemeinbildung“, die mir sehr gefällt. Sie werde,schrieb er, „wahrscheinlich in Europa am ehesten von der bis auf antike Vorbilder – Artes liberales – zurückgehenden klassisch-humanistischen Gymnasialerziehung erreicht“. Man könne dann „von einer inneren Formung des Kulturmenschen (Cultura animae) sprechen, die zu seiner besten Entwicklung führen soll und damit letztlich auch seiner Gemeinschaft nützlich sein würde“. Vom Olymp der Gymnasialmatura ex 1950 in das Jahr 2007 zurückgekehrt, merkt der einstige Botschafter an, „dass aber im Umkehrschluss ein gebildeter Mensch nicht unbedingt ein gescheiter sein muss“. Zusätzliche Anmerkung, diesmal vom Autor: Was blöd ist, muss nicht unbedingt verfassungswidrig sein, sagte Karl Korinek, Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes.

Gewiss, mein Maturakollege ist präformiert, wie – ich gebe es offen zu – auch ich. Unsere Schule war auch Schulung. Die Maturareise führte uns in das klassische Italien – Rom, Neapel, Florenz, Venedig. Unser Lateinprofessor wechselte dann als Ordinarius für Philologie an die Wiener Uni. Er und sein Kollege, der Griechischprofessor, der sogar schließlich Rektor der Alma Mater Rudolphina wurde, sie beide haben uns immer vom „Geist der Antike“ vorgeschwärmt. Von der Klassik. Haben sie uns zu Bildungsbürgern erzogen?

Wir sind nicht daran schuld, dass der Absatz von CDs des Sektors E-Musik, vor allem jener der sogenannten klassischen, von Jahr zu Jahr abnimmt. Wir sind auch nicht daran schuld, dass im Deutschunterricht die Klassiker immer weniger Raum einnehmen; wenn schon von Schuld die Rede ist, dann offensichtlich von jener des Lehrplans. Wir können auch nichts dafür, dass die erwähnten Klassiker oft nur mehr in Versionen inszeniert werden, die einen Teil der Zuseher dazu animieren, in der Pause das Theater zu verlassen. Ist die „Josefstadt“ zu einem Refugium geworden, jene Bühne, deren Publikum, wie es vor Kurzem im Frühjournal des Radios hieß, „als konservativ verschrien“ ist? Dass die Bildungsbürger geradezu diffamiert werden, ist nichts Neues mehr.

Diffamiert wird, scheint mir, auch das Latein. Wie totes Gewebe sei es abzustoßen, hieß es in einem Leserbrief an die „Presse“. Mein Trost hingegen war, dass neun Zehntel der schriftlichen Reaktionen auf die – soll ich sagen: interessante? – Kolumne einer Kollegin, die vehement für die Abschaffung des Lateinunterrichts eingetreten war, sich energisch gegen diese Meinung aussprachen. Was wird um Gottes willen passieren, wenn der Vatikan demnächst wirklich die lateinische Messe wieder offiziell gestatten wird? Lasst die Toten die Toten begraben?

Seien wir fair. Die „Welt“, nicht gerade eineMassenzeitung des deutschen Boulevards, hat – es ist schon ein paar Jahre her – in einem Leitartikel die Meinung vertreten, das Bildungsbürgertum sei einer Erosion unterworfen. Es sei von einer Ausdünnung betroffen und selbst schuld daran. „Eine Schicht beginnt, nur für sich selbst zu leben, auffallend korrelieren der Bildungsstand und die Unlust, mit Menschen zu tun zu haben, die nicht oder noch nicht so sind wie man selbst.“ Die Zeitung stellt fest, dass ausgerechnet die „Bildungsbürger“ immer weniger Kinder haben. Sie bemühten sich zudem „kaum noch um die Bestimmung einer bürgerlichen Leitkultur, aus der eine besondere Verantwortung für die anderen Schichten erwächst“. Und dann: „Nicht umsonst steckt im Begriff Bildungsbürgertum das Wort Bürger. Es ist eine tragende Schicht der postfeudalen Gesellschaft. Was wir aber derzeit erleben, wirkt wie die Wiedergeburt der Ständegesellschaft aus dem Geist des Individualismus.“

Was also stimmt? Darf man sich als Bildungsbürger wertebewusst fühlen, oder sinddie Werte der Bildungsbürger solche des 19.Jahrhunderts, die in der Gegenwart obsolet geworden sind? Ist Bildung in der Tat nur mehr Ausbildung? Dass sich die Bildungsbürger als Elite geben und als „closed shop“ betrachten, ist unwahr – nicht zuletzt deswegen, weil auch das Wort „Elite“ zum Unwort geworden ist. So betrachtet, ist der seinerzeitige Vorschlag einer jungen Mandatarin, man sollte die Parlamentsabgeordneten einem Intelligenztest unterziehen, gar nicht so abwegig – auch wenn, siehe oben, Bildung mit Intelligenz nicht unbedingt etwas zu tun haben muss. Gebildet sein heißt eben wirklich nicht immer: „gscheit sein“.

Ich stehe nicht an, zu erklären, dass die Leser dieser Zeitung, deren Chefredakteur ich viele Jahre sein durfte, beides sind. Man hat mir erzählt, dass vor Zeiten – war es wirklich noch im 19.Jahrhundert? – es vorgekommen ist, auf eine Visitenkarte „Abonnent der Neuen Freien Presse“ zu schreiben. Wenn heute die Media-Analyse ausweist, dass die „Presse“ ihre höchste Reichweite unter den Lesern mit Matura oder Hochschulabschluss hat, so wie in der sogenannten A-Schicht, die nicht zuletzt jene der Opinion leader ist, also der Meinungsführer, so bringt uns dies wieder an den Beginn: Im Anfang war das Wort. Vielleicht darf ich jetzt doch „Logos“ sagen. Also Gedanke. Oder auch (schlag nach im „Faust“) Sinn. Jene, die nachdenken und Sinn suchen, sind – pardon – Bildungsbürger. Es ist alles andere als ein Schimpfwort. Auch wenn ich darauf verzichte, „Mitten im 8ten“ anzuschauen, bin ich kein Pharisäer. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2007)

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