Moldawien: Wenn Kinder in Hundehütten aufwachsen

Reportage. Moldawien ist das Armenhaus Europas. Am härtesten trifft die triste Wirtschaftslage behinderte Kinder.

ChiSinau. Sie jagen aufgeregt dem Ball hinterher, hüpfen auf einem Bein durch den Hof und spielen Fangen. Nur Mischa sitzt auf einer Bank und sieht dem Treiben der Kinder zu. Er ist nicht so geschickt wie die anderen. Die Kniegelenke des Buben sind steif und wollen sich nicht so recht bewegen. Auch beim Sprechen hat er einige Schwierigkeiten, die Worte kommen nicht immer klar aus seinem Mund.

Doch Mischa, der heuer seinen sechsten Geburtstag feierte, hat fast zwei Jahre seines Lebens in einer Hundehütte gewohnt, irgendwo in einem einsamen Dorf in Moldawien. Bei den Hunden bekam er wenigstens das bisschen Wärme, das ihm die Menschen versagten. Heute lebt er in einem Kinderheim in der moldawischen Hauptstadt Chisinau, hat Gehen und Sprechen gelernt.

Moldawien ist das ärmste Land Europas mit einer extrem hohen Arbeitslosenrate. Der Großteil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Das bisschen Industrie, das im osteuropäischen Land nach dem Zerfall der Sowjetunion zurückgeblieben ist, liegt in der abtrünnigen Region Transnistrien. Darauf hat die Republik keinen Zugriff.

In manchen Dörfern liegt die Arbeitslosenrate bei 100 Prozent. Bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von etwa 30 Euro verlässt jeder, der kann, das Land, und versucht, sein Glück im Ausland zu machen. Rund ein Viertel der Moldawier leben außerhalb ihrer Heimat und schicken regelmäßig Geld an ihre Familien. Es sind vor allem die Frauen, die Jobs als Kindermädchen oder Putzfrauen hauptsächlich in Italien und der Türkei annehmen und so ihren Familien unter die Arme greifen. Zurück bleiben die Alten und die Kinder.

Diese schwierige wirtschaftliche Situation trifft die Schwächsten der Gesellschaft am stärksten - Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Staatliche Heime sind für die Eltern von behinderten Kindern oft der letzte Ausweg und die einzige Alternative zur Betreuung in den eigenen vier Wänden, denn Tagesbetreuungsstätten sind kaum vorhanden. Oft erlaubt es die finanzielle Situation der Familie nicht, dass Väter oder Mütter ihren Job aufgeben, um etwa ein bettlägeriges oder geistig zurückgebliebenes Kind zu betreuen. Diese landen dann in einem staatlichen Kinderheim. In den insgesamt 67 staatlichen Institutionen leben 15.000 Kinder.

Zudem ist auch die Zahl der Sozialwaisen im Land mit 23.000 sehr hoch. Sie wurden von ihren Eltern und Verwandten verlassen und versuchen nun, sich alleine durchs Leben zu schlagen - so wie der sechsjährige Mischa.

Seine Mutter verließ das Land, als Mischa ein Baby war. Gutgläubig nahm die 23-Jährige eine Arbeitsstelle in der Türkei an - später stellte sich heraus, das sie Opfer von Menschenhändlern geworden war und in der Türkei zur Prostitution gezwungen wurde. Der Säugling blieb bei der 19-jährigen Tante zurück. Doch auch diese nahm einen vielversprechenden Job in der Türkei an und ließ nie wieder von sich hören.

Den kleinen Buben überließ sie den Nachbarn - beide schwere Alkoholiker, die sich nicht um das Kind kümmerten. Zwei Jahre hauste er in einer Hundehütte. Als er ins Behindertenheim eingewiesen wurde, konnte er weder gehen, noch sprechen. Heute kann er sich verständigen und spielt so gut er kann mit den anderen Kindern im Hof von Ana Gobijla, die das "Small Groups Home" in Chisinau leitet.

Ihre familiäre Betreuungseinrichtung ist eine Revolution im moldawischen Sozialsektor. Das Kinderheim befindet sich nicht wie alle staatlichen Institutionen abseits der Dörfer, sondern mitten in der Hauptstadt. Die Kinder, alle zwischen sechs und 15 Jahre alt, leben in kleinen Gruppen und besuchen normale Kindergärten und Schulen in der Umgebung.

Die 50-jährige Ana kämpft schon seit Jahrzehnten für die Integration Behinderter in die moldawische Gesellschaft. "Hier reden wir mit den Kinder wie mit gleichberechtigten Partnern. Wir beschäftigen uns mit ihnen und geben ihnen Liebe", sagt sie.

Was so selbstverständlich klingt, prägt keineswegs den Alltag in den staatlichen Heimen, die Relikte aus Moldawiens Sowjetzeit sind. Dort werden Kinder - egal ob psychisch oder physisch behindert - weggesperrt und landen ohne Zuwendung hinter hohen Gitterzäunen. Dem 16-jährige Dima etwa, dem außer einer körperlichen Beeinträchtigung nichts fehlt, bleibt jegliche geistige Förderung verwehrt. Behinderten, ob geistig oder körperlich, bleibt der Zugang zu Schulen verwehrt.

Einmal im Behindertenheim, verbringen die Kinder oft ihr gesamtes Leben dort. Sie werden gerade mal mit Essen versorgt. Das kostet 3,5 Lei - etwa 30 Cent - pro Kind und Tag. Spielplätze, Gemeinschaftsräume und Streicheleinheiten sind dort völlig neue Therapieansätze, die frustrierten Betreuern Erfolgserlebnisse bescheren. Apathische Kinder beginnen plötzlich zu lächeln, malen bunte Zeichnungen und freuen sich über Ballspiele im Garten. Auch Mischa kann wieder lachen - und Hoffnung und Vertrauen schöpfen.

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