Islamisten-Präsident ohne Spielraum

Der Muslimbruder Mohammed Mursi verspricht, ein Präsident aller Ägypter zu sein. Doch seine Flügel hat ihm die Armee schon vor dem Amtsantritt gestutzt.

Kairo. Freudentriller hallen über den Tahrir-Platz. „Mursi, Mursi, Mursi“, rufen sie, so als wollten sie den Stürmer ihres Lieblingsfußballklubs anfeuern. Es ist die Wahlparty der Sieger. „Ich bin unendlich glücklich. Ich kann das nicht in Worte fassen, das Gefühl, über ein betrügerisches Regime einen Sieg errungen zu haben“, meint Doaa Zidan, die Angestellte einer Ölfirma. Für viele hier war die Verkündung des Wahlsieges Mursis ein großes Aufatmen, auch wenn sie selbst keine Anhänger der Muslimbruderschaft sind. Sie haben Mursi gewählt, um zu verhindern, dass Ahmed Shafik, der letzte Premier des 2011 gestürzten Machthabers Hosni Mubarak, Präsident wird.

Alle auf dem Platz wissen aber auch, dass der Kampf mit dem obersten Militärrat noch bevorsteht. Der hat bereits in einer Übergangsverfassung die Macht des neuen Präsidenten massiv beschnitten. Wenn Mursi nächste Woche sein Amt antritt, dann ist er ein Präsident mit gestutzten Flügeln. Mursi hat in einer ersten Fernsehansprache versöhnliche Töne angeschlagen: Er bezeichnete sich als Präsident aller Ägypter und forderte die Bevölkerung auf, das Land gemeinsam aufzubauen.

Für den Chef des al-Ahram-Zentrums für Sozialstudien, Nabil Abdel Fatah, stellt die Präsidentenwahl einen „wichtigen politischen Wendepunkt dar, nachdem Ägypten 30 Jahre lang politisch tot war“. Für ihn ist der Sieg der Muslimbrüder auch ein Sieg der benachteiligten ländlichen Gebiete über die städtische Elite. „Diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz Mursi feiern, kommen zum Großteil aus den Provinzen“, sagt er zur „Presse“. Selbst die Antrittsrede Mursis habe gewirkt, als predige er in einer Dorfmoschee.

„Vor turbulenten Zeiten“

Außer Slogans habe Mursi im Moment wenig Konkretes zu bieten, sagt Abdel Fatah. Ohnehin habe Mursi im Moment kaum politischen Spielraum. Ziehe man die Hälfte der Wahlberechtigten ab, die nicht zu den Urnen gegangen sind, hat etwas mehr als ein Viertel der Ägypter für ihn gestimmt. „Der Militärrat und der alte Staatsapparat werden Mursi den Sieg nicht ohne Widerstand überlassen.“ Mursi habe nur dann eine Chance, wenn er echte Koalitionen mit anderen politischen Kräften eingehe, und das funktioniere nur, wenn die Muslimbrüder ihren islamischen Konservativismus ablegen und die Religion weltoffen interpretieren, glaubt er. Und das sei im Moment alles andere als wahrscheinlich. „Ein Regime zu stürzen ist eine Sache“, sagt Abdel Fatah, „einen Staat völlig neu aufzubauen, eine völlig andere.“ Er prophezeit turbulente Zeiten für Ägypten.

Ein paar Blocks vom Tahrir entfernt herrscht unheimliche Stille. Während die Sieger auf dem Platz feiern, haben sich die Verlierer in ihre Häuser zurückgezogen. Eine davon ist Abla Hamdi, pensionierte Altertumsrestauratorin. Sie gab ihre Stimme Shafik: nicht, weil sie das alte Regime zurückhaben wollte, sondern aus Angst vor einem Muslimbruder im Präsidentenpalast. „Ich bete zu Gott, dass ich mit meiner Einschätzung falsch liege und bei den Muslimbrüdern vielleicht doch etwas Gutes herauskommt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2012)

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