Italien zerstört wieder Deutschlands Sommermärchen

(c) AP (Matthias Schrader)
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Mario Balotelli macht beim 2:1 die deutschen Hoffnungen zunichte. Italien zieht ins Endspiel gegen Spanien ein. Auch weil Joachim Löw sich verspekulierte.

[Warschau/Wien] Deutschland muss weiter auf den ersten Titel seit 1996 warten. Die Träume vom Finale der EM 2012 platzten, weil der DFB-Elf keine Antwort auf Mario Balotellis Doppelpack einfiel. „Es könne wieder einige Änderungen in der Aufstellung geben", hatte Joachim Löw prophezeit. Im Gegensatz zum Spiel gegen die Griechen klappte die Geheimhaltung diesmal und die Überraschung war perfekt.

Miroslav Klose, den viele erneut in der Startelf erwartet hatten, blieb für Mario Gomez auf der Bank. Und noch überraschender: Toni Kroos, der bei diesem Turnier noch nie in der Startelf gestanden war, ersetzte den zuletzt bärenstarken Marco Reus auf der rechten Offensivseite. Zudem spielte Lukas Podolski für Schürrle. Diese Schachzüge sollten sich früh als Fehlschläge erweisen.


Italiens Teamchef Cesare Prandelli ersetzte im Vergleich zum Viertelfinale gegen England den angeschlagenen Abate durch den wieder genesenen Chiellini.
Und die neuformierte italienische Defensive hatte gleich eine Schrecksekunde zu überstehen: Nach einer Kroos-Ecke kam Innenverteidiger Mats Hummels überraschend zum Schuss.

Doch was wäre Italien ohne Andrea Pirlo? Der Altstar bewies diesmal auch seine Stärke in der Defensive und klärte auf der Linie (5.). Auch die zweite Chance ging an die Deutschen. Eine Boateng-Flanke wehrte Gianluigi Buffon schlecht zur Mitte ab. Der Ball prallte an Barzaglis Bein und rollte knapp an der Stange vorbei. (12.)

Cassano blamiert Hummels

Die „Squadra Azurra" antwortete mit zwei guten Distanzschüssen von Montolivo und Cassano - und mit dem 1:0. Cassano ließ Hummels links wie einen Schulbuben stehen und flankte zur Mitte, Italiens Eklat-Stürmer köpfelte locker ein. (20.) Erstmals seit zwei Jahren lag Deutschland wieder in einem Pflichtspiel zurück - zuletzt war das bei der WM im Spiel um Platz drei der Fall.

Montolivos Geniestreich

Eine leichte Verunsicherung war der Löw-Elf anzumerken. Doch just als die Deutschen zurück in die Partie fanden, versetzte ihnen Italien den zweiten Schlag. Wieder war es Balotelli. Doch ebenso viel Kredit für das 2:0 muss man Riccardo Montolivo zurechnen. Nach einem Traumpass des Fiorentina-Stars über 50 Meter sah die deutsche Abwehr nur staunend zu, wie Balotelli auf Manuel Neuer zulief.

Diesmal zögerte der 21-Jährige nicht, sondern knallte den Ball ins Kreuzeck. Der Italiener nahm die Gelbe Karte gerne in Kauf, präsentierte stumm seine nackte Brust. Während erste deutsche Fans auf den Tränen vergossen und der deutsche Boulevard den Fußballgott beschwörte, korrigierte Löw zur Pause seine Aufstellung: Klose und Reus für Gomez und Podolski.

Das Spiel der Deutschen wurde umgehend besser. Vor allem, weil Reus, der neben Klose eine zweite Sturmspitze gab, wesentlich mehr zeigte als Podolski. Zwingende Chancen gab es nicht, aber auch Cesare Prandelli sah, dass sein Team gehörig unter Druck geriet. Italiens Teamchef brachte Diamanti für Cassano.

Kein Tausch, der für Mauern stand. Deutschland behielt die Kontrolle. Bei einem Freistoß von Reus (62.) verhinderte nur eine Glanzparade Buffons das erste DFB-Freistoßtor seit Ballacks Kracher gegen Österreich 2008. Prandelli verstärkte nun die Defensive: Thiago Motta ersetzte Montolivo. Damit endete die deutsche Druckphase

Kurz danach war für Balotelli Schluss, der Matchwinner hatte alles gegeben. Italien hatte nur mehr wenig Mühe, den Finaleinzug perfekt zu machen. Bei einigen Kontern ließ man das 3:0 liegen. In der Nachspielzeit verwandelte Özil noch einen Handelfer - zu spät. Aber die kommenden Tage werden dennoch hart genug für Joachim Löw.

Stimmen zum Spiel

Cesare Prandelli (Teamchef Italien): "Das war ein Wahnsinnsspiel. Wir haben genau das gemacht, was wir uns vorgenommen hatten. Wir haben aber die Chance auf das dritte Tor verpasst, sonst war das ein perfektes Spiel. Mario Balotellis Karriere beginnt erst jetzt. Spanien ist im Finale Favorit, aber wir können mithalten. Dieser Sieg war ein Beispiel für unsere Liebe zum Nationaltrikot."

Joachim Löw (Teamchef Deutschland): "Ich wollte die Zentrale mit Kroos stärken, weil Italien in der Achse mit Pirlo und De Rossi sehr stark ist. Gomez hatte vorher drei Tore geschossen und war im Training stark, auch Podolski hat gut trainiert und einmal getroffen. In den ersten drei Spielen haben wir auch mit Gomez und Podolski gewonnen. Die Tore sind durch Fehler hinten entstanden. Hummels darf sich beim ersten Gegentor nicht drehen, die Flanke darf nicht kommen.

Am Anfang hatten wir die Sache gut im Griff, aber nach dem 0:1 waren wir ein bisschen fahrig und nicht mehr so gut organisiert. Trotz des Rückstands hat die Mannschaft in der zweiten Hälfte ihr großes Herz gezeigt, aber wenn Italien einmal 2:0 führt, wird es extrem schwierig. Die Enttäuschung ist für alle sehr groß, aber man sollte jetzt nicht den Fehler machen und alles hinterfragen. Ich will jetzt nicht alles kritisch sehen. Die Mannschaft hat insgesamt ein gutes Turnier gespielt. In der Kabine fließen Tränen, es ist mucksmäuschenstill. Die Mannschaft wird sich weiterentwicklen und durch solche Spiele noch erwachsener werden."

Philipp Lahm (Kapitän Deutschland): "Das ist sehr bitter. Wir machen dumme Fehler und kriegen dann solche Tore. In der zweiten Hälfte haben wir alles gegeben. Wenn ich meine Chance mache, haben wir noch die Chance auf den Sieg. Wenn man gegen eine Mannschaft wie Italien in Rückstand gerät, wird es schwierig. Wir haben so viel Potenzial für mehr, aber wenn man es in entscheidenden Situationen nicht abrufen kann, verliert man so ein Spiel."

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2012)

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