"Rechte" Gottes im Widerstreit mit den Menschenrechten

Rechte Gottes Widerstreit Menschenrechten
Rechte Gottes Widerstreit Menschenrechten(c) FABRY Clemens
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Der Islam stellt eine ernste Herausforderung für das Projekt universaler Menschenrechte dar. Ein besonderer Brennpunkt der Debatte ist die im Koran und der Prophetentradition verankerte Todesstrafe für diverse Delikte.

Innsbruck. Für Juristen ist das Recht im Allgemeinen und das Völkerrecht im Besonderen ein grundsätzlich säkulares Unterfangen. Gerade diese Ausrichtung jenseits partikularer weltanschaulicher Traditionen wird als Stärke wahrgenommen – insbesondere angesichts historischer Beispiele religiöser oder konfessioneller Auseinandersetzungen. Stichwort: Kreuzzüge, Europäische Religionskriege, (Re-)Conquista.

Nach Ende des Ost-West-Konflikts herrschte die Meinung vor, dass sich das Modell des westlich-liberalen Rechtsstaates und der Menschenrechte ungehindert über den Erdball ausdehnen würde. Entgegen den Erwartungen haben sich indes schon im Zuge der Dekolonisierung manifest gewordene Prozesse verstärkt. In verschiedenen Ländern haben Individuen und Gruppen unter Berufung auf religiöse Autoritäten bestehende rechtliche und politische Ordnungen kritisiert und sich für deren Ablösung durch religiöse Alternativmodelle eingesetzt. Oft haben sie für diese „Reformen“ ausdrücklich ein demokratisches Mandat gesucht. Dass diese Dynamiken alles andere als abgeschlossen sind, zeigen machtvoll die jüngsten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling.

Besonders prekär erweist sich das Verhältnis zwischen religiösen Ordnungsvorstellungen und Menschenrechten, wie jüngst eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Islam and International Law“ an der Universität Innsbruck unter Beteiligung von Experten aus fünfzehn Ländern gezeigt hat. Dass alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind“, hat die Staatengemeinschaft 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert. Dies gilt heute mehr denn je als unverhandelbarer Kern des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes. Der darin enthaltene Universalitätsanspruch und das Abstellen auf das Individuum als Hauptreferenzpunkt der Menschenrechte sind aber nicht unumstritten.

Die in Bezug auf den Islam typischerweise identifizierten Spannungsfelder sind wohlbekannt. Sie betreffen die Stellung der Frau, etwa im Bereich der Freiheit vor Gewalt, der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung, der freien Berufswahl und des Zugangs zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Zudem stellen gewisse Gruppierungen, ja Staaten Menschenrechte infrage, wenn sie in Widerspruch zu den „Rechten“ Gottes oder seiner Vertreter auf Erden gesehen werden. Meinungs- und Glaubensfreiheit sollen dementsprechend ihre Grenzen im Falle vermeintlicher Blasphemie oder beim Versuch des Verlassens der Glaubensgemeinschaft finden.

Strafen wider das Folterverbot?

Ein besonderer Brennpunkt der Debatte ist die im Koran und der Prophetentradition (Sunna), den beiden Hauptquellen des islamischen Rechts, verankerte Todesstrafe für diverse Delikte. Aus völkerrechtlicher Sicht allerdings noch schwerer wiegen die darin ebenfalls festgeschriebenen Körperstrafen (Hudd-Strafen), etwa in Form von Amputationen, die mit dem absoluten Verbot der Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung wohl nicht in Einklang zu bringen sind.

Auf diese Spannungen wird von muslimischer Seite unterschiedlich reagiert. Nicht wenige bekennen sich offen zum Primat des islamischen Rechtssystems (Scharia). Menschenrechte sind dann nur insoweit akzeptabel, als sie dazu nicht im Widerspruch stehen. Exemplarisch für diese Haltung sind die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (1990), verfasst im Schoß der Organisation der Islamischen Konferenz (heute: Kooperation), und ihr Generalvorbehalt, der alle darin erklärten Rechte der Scharia unterwirft.

Parallel dazu existieren Auffassungen, die Menschenrechte im Bezug auf den Islam nicht als Fremdkörper wahrnehmen, sondern argumentieren, dass bei rechter Betrachtung der Islam die Menschenrechte hervorgebracht hätte, z.B. Mindeststandards im Bereich des Kriegsrechts sowie Garantien für besonders Schutzbedürftige einschließlich gewisser Rechte für religiöse Minderheiten, sofern es sich um Angehörige der sogenannten Buchreligionen handelte. Auch die Würde des Menschen sei im Islam grundgelegt. Regelmäßig fällt hier das (Koran-)Wort vom Menschen als Kalifen (d.h. Stellvertreter) Gottes auf Erden. Ungeachtet der Frage der historischen Haltbarkeit derartiger Thesen entziehen sich solche Positionen aber nur allzu oft der Gretchenfrage, ob im Falle eines unauflösbaren Widerspruchs zwischen einem religiösen Gebot und einem menschenrechtlichen Anspruch diesem oder jenem der Vorrang zukommt. Schließlich gibt es auch Haltungen, die sich im Fall von derartigen Widersprüchen zum Vorrang der säkularen Menschenrechte bekennen. Oft ist hier freilich eine harmonisierende Auslegung am Werk, die problematische Koranverse und Prophetenüberlieferungen weitestmöglich als Scheinwidersprüche zu menschenrechtlichen Vorgaben entlarven möchte. Andere halten es dagegen für konsistenter, die Unvereinbarkeit gewisser Elemente der Tradition mit den Menschenrechten offen einzugestehen und diesbezüglich eine Reform der Tradition einzufordern.

Nicht mit zweierlei Maß messen

Manch „aufgeklärter Westler“ mag sich angesichts dessen mit der Beobachterperspektive begnügen und das Ergebnis des islaminternen Meinungsstreits abwarten wollen. Will man das Menschenrechtsprojekt aber ernst nehmen, darf man die Augen vor den Herausforderungen des globalen Menschenrechtsdiskurses nicht verschließen. Den schlechtesten Dienst erweist der Westen „seinen“ Menschenrechten jedenfalls, wenn er sie inkonsistent anwendet oder gar zum eigenen Vorteil instrumentalisiert. Der Vorwurf, mit zweierlei Maß zu messen, ist im globalen Süden weit verbreitet – oft nicht unbegründet. Wenn man muslimische Staaten glaubwürdig hinsichtlich der von ihnen eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen in Anspruch nehmen will, müssen Menschenrechte umgekehrt ernsthaft und diskriminierungsfrei gewährt werden, insbesondere in Auslandseinsätzen, an den Grenzen der Union („Festung Europa“) ebenso wie im Umgang mit Minderheiten im Inland (vgl. Minarettverbot).

Die Einzementierung des Status quo ist jedenfalls keine tragfähige Option, nicht zuletzt angesichts der gravierenden Verschiebungen im weltweiten Machtgefüge, die den (Zwangs-)Export westlicher Menschenrechtsvorstellungen immer weniger zulassen. Will das Völkerrecht seine Aufgaben auch im 21. Jahrhundert erfüllen, muss man sich mit anderen Rechtstraditionen, namentlich dem Islam, weit stärker als bisher auseinandersetzen – gewiss kritisch, aber mit einem echten Interesse am Gegenüber.

Allen Unkenrufen zum Trotz wird das à la longue die Menschenrechtsidee nicht schwächen, sondern stärken.

Ass.-Prof. Dr. Andreas Th. Müller, LL.M. (Yale) und Ass.-Prof. Dr. Marie-Luisa Frick arbeiten am Institut für Europa- und Völkerrecht bzw. am Institut für Philosophie an der Universität Innsbruck.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2012)

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