Das zweite Leben des nordkoreanischen Kinderhäftlings Shin

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Shin Dong-hyuk wurde im berüchtigten Arbeitslager geboren, doch dann gelang ihm die Flucht. Das soeben auf Deutsch erschienene Buch „Flucht aus Lager 14“ erzählt die Lebensgeschichte Shins

Ein Tag ist wie der andere, 23 Jahre lang: Shin Dong-hyuk steht um vier Uhr Früh auf und nimmt die erste Mahlzeit ein, einen Brei aus Salz, Kohl und Mais, etwas anderes bekommt er nicht. Dann arbeitet er den ganzen Tag, Unkraut pflücken am Feld, Schuften in der Fabrik, dazwischen ein paar Stunden Schule, das Alphabet, Grundkenntnisse in Mathematik. Die Lehrer sind bewaffnete Wärter.

Eines Tages muss Shin zusehen, wie ein Aufseher ein sechsjähriges Mädchen totprügelt. Sie hatte eine Handvoll Mais gestohlen und damit gegen Lagerregel Nummer drei verstoßen: „Jeder Insasse, der Nahrungsmittel stiehlt, wird sofort erschossen“.

Verrat an Mutter und Bruder

Shin wurde 1982 im „Straflager Nummer 14“ geboren, einem von sechs bekannten Arbeitslagern Nordkoreas. Das soeben auf Deutsch erschienene Buch „Flucht aus Lager 14“ des US-Journalisten Blaine Harden erzählt die Lebensgeschichte Shins und gibt einen Einblick in die völlige Isolation nordkoreanischer Straflager und ihr grausames System von Angst und Unterdrückung.

Shins erste Erinnerung: Eine Exekution, damals war er etwa vier Jahre alt. Er hat sich nie gefragt, wieso er so leben muss, er war darauf gedrillt worden, nichts zu wissen, nicht neugierig zu sein und andere für ein bisschen mehr Nahrung zu verpfeifen. Sein Vater wurde in das Lager gesteckt, weil seine Brüder nach Südkorea geflüchtet waren. Wieso seine Mutter dort war, weiß auch Shin nicht. Er wurde im Lager gezeugt, seine Eltern hatten als Belohnung für besonders harte Arbeit für ein paar Nächte das Bett teilen dürfen. Eine tiefe Bindung zu seiner Mutter hatte Shin nie, sie war eher eine Konkurrentin um Nahrungsmittel. Shin hatte keine Vorstellung von Freiheit oder Liebe, diese Worte waren ihm fremd. „Mit zwölf oder 13 Jahren werden die Kinder im Lager von ihren Müttern getrennt, damit sie keine tiefen Bindungen zu ihnen aufbauen“, sagt Buchautor Harden.

Eines Nachts, Shin ist etwa dreizehn Jahre alt, belauscht er seine Mutter und seinen acht Jahre älteren Bruder dabei, wie sie eine Flucht planen. Shin weiß, was das bedeutet: „Jeder, der einem Flüchtenden hilft oder davon weiß, wird sofort erschossen“, lautet Regel Nummer eins. Ohne zu zögern geht Shin zum nächsten Wärter und verrät den Plan. Aber anstatt der erhofften Belohnung wird er in ein fensterloses Verlies geworfen.

Die kommenden sechs Monate wird Shin immer wieder gefoltert, einmal hängen sie ihn an Händen und Füßen über ein Feuer, bis er ohnmächtig wird vor Schmerzen. Die Narben trägt er bis heute. Eines Tages führen die Wächter ihn zum Hinrichtungsplatz. Shin sieht zu, wie seine Mutter und sein Bruder exekutiert werden, die Aufseher stopfen ihnen Kieselsteine in den Mund, damit sie in ihren letzten Momenten nichts über Nordkoreas politische Führung verraten können. „Bevor sie gehängt wurde, versuchte seine Mutter, Shins Blick zu erhaschen, aber Shin sah weg“, sagt Harden. „Er war nicht traurig, als sie starb, sondern erleichtert, dass es nicht ihn getroffen hatte.“

600 Kilometer in die Freiheit

Die Häftlinge bekommen nichts mit von Nordkoreas Politik, von Kim Jong-il hört Shin das erste Mal nach seiner Flucht. Davor waren die Lagerregeln seine moralische Orientierung gewesen. Später wird Shin zu Journalisten sagen, dass er erst in Freiheit zum Menschen wurde, dass er noch weniger war als ein Sklave, eher ein Tier.

Shin ist etwa zwanzig, als er den Mann kennen lernt, der sein Leben verändern soll. Die Wächter setzen Shin auf Park an, einen politischen Häftling, der ihm von China erzählt, vom Fernsehen und von gegrilltem Fleisch. Zum ersten Mal macht Shin sich Gedanken über die Welt draußen, er fasst Vertrauen zu Park und verrät ihn nicht. Sie planen ihre Flucht, im Jänner 2005 ist es soweit. Beim Holzsammeln laufen sie los, doch Park bleibt am Elektrozaun hängen und rührt sich nicht mehr. Shin kriecht hindurch, wird verletzt, schafft es aber auf die andere Seite. Er ist einer von nur zwei Menschen, denen die Flucht aus einem der Arbeitslager gelingt.

In den kommenden Monaten legt Shin fast 600 Kilometer zurück, er bricht in Bauernhäuser ein und verkauft das Diebesgut auf Märkten weiter. Schließlich erreicht er China, wird vom südkoreanischen Geheimdienst verhört und nach Seoul ausgeflogen.

Später versucht Shin, in den USA ein neues Leben anzufangen. „In Seattle lebte er mit einer jungen Frau zusammen, aber es klappte nicht, er verließ das Land mit gebrochenem Herzen“, erzählt Harden. Heute lebt Shin in Seoul und kämpft für die Schließung der Straflager. Zu der Frau in Seattle hat er wieder Kontakt aufgenommen, bald will er sie besuchen. Es sei das erste Mal, so Harden, dass Shin von sich sagt, glücklich zu sein.

Auf einen Blick

Lager 14 existiert seit 1959 und liegt etwa 70 Kilometer entfernt von Pjöngjang in der Provinz Süd-Pjöngjang. Es ist eines von sechs bekannten Straflagern Nordkoreas. Das größte ist „Lager 15 – Yodok“, das sich mit etwa 50.000 Inhaftierten über 90 Quadratkilometer erstreckt. Insgesamt sind rund 200.000 politische Gefangene und ihre Angehörigen in Lagern interniert.

US-Journalist Blaine Harden lernte Shin Dong-hyuk 2005 kennen, als er für die „Washington Post“ einen Artikel über Shins Leben verfasste. Das große Interesse veranlasste Harden dazu, ein Buch zu schreiben. Am Montag erschien „Flucht aus Lager 14“ bei der Deutschen Verlags-Anstalt (256 Seiten, 20,60 Euro).

DAS INTERVIEW MIT DEM AUTOR UNTER:

www.diepresse.com/harden

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2012)

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