Die Liste des Albert Göring

Eine ungewöhnliche Biografie: Retter von 34 Juden und – Hermann Görings Bruder. Albert Görings Liste verschwand in einem Washingtoner Archiv, wo sie 60 Jahre später von einem jungen Australier ausgehoben wurde und eine leidenschaftliche Neugierde entfachte.

William Hastings Burkes Biografie über Albert Göring beginnt nicht wie eine Biografie. Sie beginnt auch nicht wie ein Roman. Sie beginnt wie zwei Romane. Der eine handelt von Hermann Görings Bruder Albert, der im Mai 1945 in einer Nürnberger Gefängniszelle 34 Namen von Menschen auf einen Zettel schrieb, von denen er behauptete, sie vor den Nazis gerettet zu haben. Der diensthabende CIA-Offizier vermerkte im Vernehmungsprotokoll, das sei einer der „plattesten Versuche der Reinwaschung und Ehrenrettung“, die er je erlebt hätte.

Albert Görings Liste verschwand in einem Washingtoner Archiv, wo sie 60 Jahre später von einem jungen Australier ausgehoben wurde und eine leidenschaftliche Neugierde entfachte. Der frisch gebackene College-Absolvent beschloss, sich auf den Weg zu machen, um die Wahrheit zu erfahren. Das ist der zweite „Roman“. Er handelt von der spannenden, melancholischen, zuweilen skurrilen Wahrheitsfindungs-Odyssee William Hastings Burkes. Sie führte ihn in Schwarzwälder Dörfer, Grazer Villen, in Archive und Wiener Kaffeehäuser. Name für Name arbeitete sich Burke durch „Görings Liste“ und sammelte Beweis um Beweis, dass Albert Göring nicht gelogen hatte.

Der Lebemann als Lebensretter

Burke zeichnet das Bild eines Mannes, der, durch den Zufall der Geburt, ganz nahe am Zentrum der NS-Schreckensherrschaft, dennoch ein Leben als Freigeist, Kunstliebhaber und Menschenfreund führte. Albert Göring liebte schöne Frauen und das gute Leben, hasste lautes deutschtümelndes Rabaukentum und besaß genug Zivilcourage, um sich öffentlich dagegenzustellen. Er wurde dafür mehrmals von der Gestapo verhaftet, kam aber immer wieder frei, denn sein Name schützte ihn.

Diesen Schutz stellte er in den Dienst unzähliger Menschen, die er mit einer Mischung aus persönlichem Mut, Gerissenheit und finanzieller Unterstützung vor Verfolgung, KZ und Tod rettete. Oft erfuhren die Betroffenen selbst nicht einmal, wer ihnen geholfen hatte. So glaubte etwa der tschechische Arzt Chravát zeitlebens, der König von Schweden habe ihn aufgrund einer alten Pfadfinder-Kameradschaft aus dem KZ Dachau befreit. Und auch Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Kurt Schuschnigg wusste nichts von einer Intervention Alberts, die ihm Hafterleichterung brachte.

William Hastings Burke erzählt in seiner Albert-Göring-Biografie eine spannende und packende Geschichte, die uns Nachgeborene fragen lässt: Wie ist es möglich, dass die deutsche und österreichische Öffentlichkeit niemals wirklich Notiz nahm von Albert Göring? Wieso interessierten wir uns nicht für diesen so gänzlich anderen Göring? Es scheint beinahe so, als wäre uns ein „guter“ Göring noch peinlicher als ein schlechter.

Vielleicht brauchte es die Unbefangenheit eines jungen australischen Forschers, um das zu erkennen, das jenseits der Bestimmtheit durch kollektive „Erinnerungsgeschichte“ auch zu sehen ist: ein spannendes Stück Zeitgeschichte, das das Zeug zu einem großartigen Roman hat. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2012)

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