Gedanken beim Frühstück über Ehe, Ernährung und Erhaltung der Rasse

Der Mann, der unsere Essgewohnheiten revolutionierte, hatte auch sonst einige Ideen. So unterstützte Dr. med. John Harvey Kellogg viele Jahre vor den Nationalsozialisten eugenische Programme.

Unschlüssig überlegte ich, ob ich die Cornflakes, die unsere Besucher übrig gelassen hatten, aufessen sollte. „Kellogg's“ prangte auf der Schachtel. Doch welch' seltsamer Vogel muss dieser Mann gewesen sein, der mitgeholfen hat, die Frühstücksgewohnheiten der Welt zu revolutionieren!

Dr. med. John Harvey Kellogg widmete sich wichtigen Themen: den Obstipationen, dem Masturbieren, der gesunden Ehe und der Reinheit der Rasse. Gegen Verstopfung empfahl er Sonnenbäder, einen selbst erfundenen Vibrationsstuhl, Leibesübungen und Einläufe. Die Gäste in seinem Sanatorium, darunter eine ehemalige First Lady der USA, die Industriemagnaten Ford und Edison, Sarah Bernhardt, G.B. Shaw und „Tarzan“ Johnny Weismuller, schätzten Kelloggs Kuren.

Schwieriger erwies sich die Bekämpfung der Masturbation. Laut Kellogg werde dieser Quell zahlloser Übel durch Verstopfung gefördert. Masturbation verkürze das Leben. Wer ihr fröne, begehe „Selbstmord mit der eigenen Hand“. Daher müsse dieses Laster bekämpft werden. Durch Diät und die Vermeidung von allem, was zur Unkeuschheit anrege: Walzertanzen, modische Kleider oder französische Romane.

„A confirmed novel-reader is almost as difficult to reform as a confirmed opium-eater“, schrieb er, und: Auch seine Träume müsse man kontrollieren – „Can dreams be controlled? – Facts prove that they can be“. Unkeuschen Knaben könne man die Hände am Bett anbinden oder ihnen eine käfigartige Vorrichtung am Geschlechtsteil anbringen. Kellogg: „Ein Mittel gegen Masturbation, das bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird.“ Für Mädchen „...ist die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure (Phenol) hervorragend geeignet, die unnatürliche Erregung zu mindern.“ Bei „Nymphomanie“ könne die Klitoris entfernt werden.

Auch in der Ehe sei Lust gefährlich. Ein in Lust gezeugtes Kind, meint er, „werde seine Leidenschaften abnormal entwickeln“. Wenn es nicht „ein Lotterbube oder eine Prostituierte“ werde, dann nur aufgrund ungewöhnlich glücklicher Umstände oder dem Wunder der göttlichen Gnade: Überhaupt sei das erste Ziel der Ehe die Aufrechterhaltung der Rasse. Dazu müsse es Heiratsrichtlinien geben.

Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Rassen seien nicht ratsam; für Menschen mit Geburtsfehlern, Kriminelle oder Arme seien Heiratsbeschränkungen vorzusehen. Ab hier war es nur mehr ein kleiner Schritt zur Gründung der „Race Betterment Foundation“, die 1906 mit Kelloggs Geld finanziert wurde und die, viele Jahre vor Nazi-Deutschland, die Umsetzung eugenischer Programme (inklusive Sterilisationen) forderte.

Spätestens hier war mir der Appetit auf die Frühstücksflocken vergangen. Ich entsorgte sie, auch wegen des Zuckergehalts. Doch wie der Zucker in die Cornflakes gekommen ist, ist eine eigene Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie ein anderes Mal.

Zur Lektüre: John Harvey Kellogg, Plain Facts for Old and Young, 1881 (in: Project Gutenberg); T.C. Boyle, Willkommen in Wellville, Roman, 2006.


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Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2012)

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