Kairo: 100.000 Demonstranten umzingeln Mursis Palast

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Die Oppositionellen fordern vom islamistischen Staatschef die Rücknahme des umstrittenen Verfassungsentwurfs. Die Polizei setzte Tränengas ein.

Kairo. Ein paar Tränengasgranaten, dann gab die Polizei auf. Kaum war der beißende Rauch abgezogen, hatten die Demonstranten die schweren Stacheldrahtsperren quer über den Sayed al-Mirghani Boulevard bereits durchbrochen. Im Eilschritt wichen die schwarz gekleideten Sondereinheiten des Innenministeriums zurück. Minuten später hatten Zehntausende den Präsidentenpalast im Nobelstadtteil Heliopolis umzingelt. Kurz zuvor war Hausherr Mohammed Mursi durch den Hinterausgang entschwunden. „Mursi ist eine Schande und ein Lügner" skandierte die Menge und „Wir sind die wahren Revolutionäre". Andere hämmerten mit ohrenbetäubendem Lärm an die umstehenden Laternenmasten und brüllten „Weg mit den Hundesöhnen".

"Rechte der Frauen gefährdet"

"Die letzte Warnung" hatte die Opposition ihre neuerliche Machtdemonstration am Dienstag genannt, mit dem sie die umstrittene neue Verfassung im letzten Moment noch stoppen will. „Sie bezieht nicht alle Menschen in Ägypten mit ein und gefährdet die Rechte der Frauen", urteilte Samah abdel Menaim. Die 26-jährige Designerin machte mit, auch wenn sie Angst vor möglicher Gewalt hat. „Ich muss es einfach tun", sagte sie, die bei der Revolution im Januar 2011 gegen Hosni Mubarak die gesamten 18 Tage auf dem Tahrir-Platz campierte.

Aufgerufen zu dem Massenprotest, der bis zum späten Abend auf mehr als 100.000 Menschen anschwoll, hatte die so genannte „Nationale Rettungsfront", zu der sich alle namhaften säkularen Politiker Ägyptens zusammengeschlossen haben, darunter Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei, der Ex-Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, sowie der ehemalige Präsidentschaftskandidat aus dem linken Lager, Hamdeen Sabbahi. „Die Verfassungsgebende Versammlung ist nicht legitim und hat eine verkrüppelte Verfassung erarbeitet ohne Beteiligung der Frauen, der Christen, der Arbeiter und der Intellektuellen", erklärte der Sprecher des Oppositionsbündnisses, Hussein Abdel-Ghani. Man werde alle gewaltlosen Mittel einsetzen, „um diesen Angriff auf die Herrschaft des Rechts abzuwehren".

Machtkampf erreicht neuen Höhepunkt

Mit dem lautstarken Aufmarsch vor der Haustüre des Präsidenten erreichte der Machtkampf zwischen dem islamistischen und dem säkularen Lager dann auch einen neuen Höhepunkt. In anderen Großstädten wie Alexandria, Mahalla, Minia und Sohag gingen die Menschen ebenfalls auf die Straße. In Kairo hatten sich die Anti-Mursi-Demonstranten zunächst vor der Raba al Adaweya Moschee in Nasr City und der Nour Moschee in Abbassia gesammelt, von denen aus sie dann quer durch die Stadt zu dem etwa fünf Kilometer entfernten Palais zogen. Mit dabei war auch Helmi al-Sourouri, ehemaliger Polizeigeneral und bereits vor fünf Jahren pensioniert. „Wir wollen nie wieder einen Diktator in Ägypten haben und wir wollen eine säkulare Verfassung", sagte der 55-Jährige, der in Jeans gekommen war und angab, schon in seinen letzten Jahren bei der Polizei zu dem Mubarak-Regime auf Distanz gegangen zu sein. Zu Glück gebe es jetzt die zivilen Kräfte, die sich gegen Mursi erhoben hätten. „Wir wollen ihn nicht stürzen, aber wir wollen, dass er zu demokratischem Prinzipien zurückkehrt."

Referendum schon am 15. Dezember

Doch danach sieht es bisher nicht aus. Die umstrittenen Dekrete des Präsidenten gegen die Judikative sind weiterhin in Kraft und spalten das Volk immer tiefer. Bereits Ende nächster Woche, am 15. Dezember, will Mohammed Mursi das Volk in einem Referendum über das neue Grundgesetz abstimmen lassen. Sein überstürztes Vorgehen ließ er am Dienstag noch einmal von seinem Sprecher verteidigen. Ägypten sei wie ein großes Schiff auf hoher See und niemand werde dessen Kapitän daran hindern, es sicher in den Hafen zu steuern, erklärte dieser und fügte hinzu: „Das Schiff muss Fahrt behalten, egal, was es kostet."

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2012)

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