Technologie im Dienste des Menschen

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Die nächste industrielle Revolution hat bereits begonnen. Die drei Kernelemente von Industrie 5.0: Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und der Mensch im Zentrum.

Mit dem technischen Fortschritt erneuern sich die Methoden, wie produziert wird. Neue Produktionstechnologien ziehen neue Arbeitsbedingungen nach sich, die dafür verantwortlich sind, dass sich auch die Lebensweise der Menschen verändert. Unterscheiden sich neue Technologien substanziell von althergebrachten und führen zu einer Disruption von Arbeits- und Lebensalltag, ist von einer industriellen Revolution die Rede.

1, 2, 3 und 4: Die Phasen der Industrialisierung

Es war die Mechanisierung der Produktion und die Nutzung der Dampfkraft, die im 18. Jahrhundert die erste industrielle Revolution in die Wege leitete. Die Textilindustrie, genauer die Baumwollspinnerei, bestimmte die erste Phase der Industrialisierung. Elektrizität und Fließbandproduktion stehen für die zweite industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Als zentrale Figur fungierte der US-amerikanische Erfinder und Automobilpionier Henry Ford (1863–1947). Er perfektionierte konsequent die Fließbandfertigung im Automobilbau. Die Automatisierung durch Elektro- und Informationstechnik steht für den Übergang zur Industrie 3.0, die schließlich in den 1970er-Jahren so richtig ihren Lauf nahm. Rechenmaschinen konnten komplexe Formeln vollautomatisch durchrechnen und wurden binnen weniger Jahre durch den Personal Computer, kurz PC, ersetzt. Das Zeitalter der Computertechnologie bescherte der Automatisation von Produktionsvorgängen eine Dimension, die zuvor undenkbar erschien. Der Beginn der vierten industriellen Revolution wird mit dem Beginn des dritten Jahrtausends datiert und steht in erster Linie für die Vernetzung von Computern. Mit dem Durchbruch des Internets kam es zu einem Modernisierungsschub der Welt, der sowohl das private als auch das berufliche Leben noch einmal völlig erneuern sollte. Begriffe wie Robotik, künstliche Intelligenz (KI), Clouds und Big oder Small Data stehen für den bis dato letzten Schritt der digitalen Revolution.

Ausbaustufe 5 der Industrialisierung

Dass die Menschheit damit nicht den letzten revolutionären Schritt gegangen ist, versteht sich von selbst. Die Anpassung an permanent aktualisierte Bedürfnisse und Realitäten führt zu Lösungswegen, die in ihrer Bedeutung und ihrem Umfeld immer wieder aufs Neue einzigartig sind. Die Industrie ist zugleich ein Motor des Wohlstands – und es scheinen die neuen Definitionen gesellschaftlichen Wohlstands zu sein, die aktuell das nächste industrielle Zeitalter einläuten. Wurde gesellschaftliches Vorankommen über die Jahrhunderte hinweg insbesondere mit Produktions- und Effizienzsteigerungen verknüpft, also mit „mehr“, „schneller“ und „kostengünstiger“, so ist in den letzten Jahren eine Tendenz zur Abkehr von diesen Grundprinzipien zu verspüren. Die Ideologie der endlosen Wachstumssteigerung als Allheilmittel für die Generierung von Wohlstand erfährt in Anbetracht limitierter natürlicher Ressourcen und der zunehmend auseinanderklaffenden Schere von Arm und Reich ihre Grenzen. Klimawandel, Pandemie und der jüngste Krieg auf europäischem Boden zwingen zum Umdenken.

Eine neue Welle von Innovationen

Gefragt ist eine neue Welle von Innovationen, die den neuen Bedürfnissen, wie Sicherheit und Klimaschutz, gerecht werden. Die Suche nach einem Wirtschaftssystem, das für und nicht gegen die Mehrheit der Menschen arbeitet, geht mit einer Industriepolitik einher, die im Gleichklang mit den gesellschaftlichen Prioritäten agiert. Der grüne und der digitale Wandel erfordern neue Technologien, die entsprechende Investitionen und Innovationen erfordern. „Diese Vision geht davon aus, dass die Industrie in der Lage ist, über die Schaffung von Arbeitsplätzen und Wachstum hinaus gesellschaftliche Ziele zu erreichen, indem sie zu einem widerstandsfähigen Wohlstandsvermittler wird, der die Grenzen unseres Planeten respektiert und das Wohlergehen der Industriearbeiter in den Mittelpunkt des Produktionsprozesses stellt“, bringt es Mariya Gabriel, EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend auf den Punkt. Das Paradigma „Industrie 4.0“ werde ergänzt, indem Forschung und Innovation den Übergang zu einer nachhaltigen, auf den Menschen ausgerichteten und widerstandsfähigen europäischen Industrie vorantreiben. „Der Schwerpunkt wird vom reinen Shareholder-Value auf den Stakeholder-Value verlagert. Unsere kohärente Vision für die Zukunft der europäischen Industrie nennen wir Industrie 5.0“, so die EU-Kommissarin.

Gesellschaft 5.0 als Basis

Das Konzept von Industrie 5.0 basiert also auf jenem der Gesellschaft 5.0, die für einen grundlegenden Wandel steht. Vorgestellt wurde es erstmals in detaillierter Ausführung im Report „Society 5.0 – Co-Creating the Future“ im Jahr 2016 von Japans wichtigstem Wirtschaftsverband, Keidanren. Nach japanischem Verständnis folgte auf Tausende Jahren des Jagens und Sammelns (Gesellschaft 1.0) die vom Ackerbau eingeleitete Epoche der Sesshaftigkeit und des Siedlungsbaus (ab 13.000 v. Chr., Gesellschaft 2.0). Massenproduktion und Industriegesellschaft im 18. Jahrhundert läuteten die Gesellschaft 3.0 ein, Computer und Internet Ende des 20. Jahrhunderts schließlich die Informationsgesellschaft 4.0. Die neue Gesellschaft 5.0 zeichnet sich laut Keidanren nun dadurch aus, dass sie direkt beim Menschen ansetzt.

Beitrag zur globalen Agenda

Bei Keidanren geht man davon aus, dass die digitale Transformation, insbesondere in Form von künstlicher Intelligenz, Robotik und Biotechnologien, den Menschen künftig Fähigkeiten vermittelt, die nicht nur die Realisierung persönlicher Träume ermöglichen, sondern auch einen Beitrag zur globalen Agenda leisten. Die Gesellschaft 5.0 ist zugleich eine Antwort auf den wirtschaftlichen und geopolitischen Wandel der Jetztzeit. Angesprochen werden im Policy Paper des mächtigen Handelsverbandes das rasante Wirtschaftswachstum im asiatischen Raum sowie die Explosion der Bevölkerungszahlen im weltweiten Maßstab, was globale Fragen der Nachhaltigkeit und sozialen Eingliederung aufs Tapet bringt. All dies führe zu einem Mentalitätswandel und der Erkenntnis, dass externe Ungleichgewichte ein ernstes Problem darstellen, die die politische und wirtschaftliche Stabilität und sogar das Überleben der Menschheit gefährden. „Wir müssen diesen Wandel als Chance wahrnehmen. Die Zukunft ist nicht eine Verlängerung der Vergangenheit. Wir brauchen eine Vision, um die Gesellschaft so zu entwickeln, dass sie in nachhaltiger Weise die fundamentalen Werte von Diversität und Inklusion fördert“, sagt Masakazu Tokura, Chairman von Keidanren. Die Gesellschaft 5.0 stehe für Problemlösungen und Wertschöpfung, Vielfalt, Dezentralisierung, Belastbarkeit, Nachhaltigkeit und Harmonie mit der Umwelt. Sehr ähnlich wird das Thema in Europa betrachtet. Wer den „Policy Brief Industry 5.0“ der EU-Kommission aus dem Jahr 2021 liest, stößt in vielen Belangen auf einen Gleichklang der Inhalte.

Das neue Bild des Industriearbeiters

Der Paradigmenwechsel ergibt sich aus der Schwerpunktverlagerung von einem technologiegetriebenen Fortschritt zu einem menschenzentrierten Ansatz. Nach der Vorstellung der EU-Kommission ist die Industrie 5.0 angehalten, gesellschaftliche Zwänge zu berücksichtigen, um niemanden zurückzulassen. Rolle und Bild der Industriearbeiter ändern sich damit erheblich. Sie mutieren von „Kostenfaktoren“ zu „Investitionsposten“ und sollen sowohl dem Unternehmen als auch dem Arbeitnehmer die Chance zur Entfaltung ermöglichen. Aus diesem Blickwinkel sind Arbeitgeber daran interessiert, in die Kompetenzen und das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter zu investieren.

Der Mensch erfährt dabei Aufwertung und Wertschätzung. Er dient nicht mehr länger der Technologie, sondern die Technologie dem Menschen. „Im industriellen Kontext bedeutet dies, dass die in der Fertigung eingesetzte Technologie an die Bedürfnisse und die Vielfalt der Industriearbeiter angepasst wird, anstatt dass sich die Arbeiter an die sich ständig weiterentwickelnde Technologie anpassen müssen“, heißt es wortwörtlich im EU-Kommissions-Manuskript „Towards a sustainable, human-centric and resilient European industry“. Um dies zu erreichen, sollen die Arbeitnehmer eng in die Gestaltung und den Einsatz neuer industrieller Technologien, einschließlich Robotik und KI, einbezogen werden. Maschinen werden nicht als Bedrohung, sondern als Partner gehandelt, da der Fokus künftig auf der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine liegt.  Das Konzept der Industrie 5.0 soll sowohl den Arbeitnehmern als auch den Unternehmen zugutekommen. Die Vorteile für die Industrie reichen von einer besseren Gewinnung und Bindung von Talenten über Energieeinsparungen bis hin zu einer erhöhten allgemeinen Widerstandsfähigkeit.

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