Oligarchitektur: Renzo Pianos „vertikale Stadt“

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The Shard, das in den Himmel ragende neue Wahrzeichen Londons, ist als höchstes Gebäude in der EU ein Monument einer vergangenen Epoche und Fingerzeig in eine neue Ära.

Auf dem Höhepunkt der Blütezeit der Finanzwirtschaft galt in London das Motto: „The sky is the limit.“ Es schien keine Grenzen zu geben, wie in einem wundersamen Märchen wurde alles immer nur größer: Profite, Bonuszahlungen, Egos. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit die Grundlagen für jene Hochhäuser gelegt wurden, die heute in London aus dem Boden schießen. Aber es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Gebäude just zu einem Zeitpunkt fertig werden, in dem die Welt damit beschäftigt ist, die Scherben des geplatzten Traums des Finanzkapitalismus aufzuräumen.

Das neue höchste Gebäude Londons, The Shard, trägt diese Pointe sogar in seinem Namen, der übersetzt „die Scherbe“ bedeutet. Mit 310 Metern Höhe ist das 1,5 Milliarden Pfund teure Gebäude mit 95 Stockwerken am südlichen Ufer der Themse derzeit das höchste Gebäude in der EU. Anders als die meisten Hochhäuser der britischen Hauptstadt ist der Shard dem breiten Publikum zugänglich: In 244 Metern Höhe befindet sich eine Aussichtsplattform, die am Wochenende eröffnet wurde.

„Sensor für die Stimmung Londons“

Trotz des üppigen Eintrittspreises von 24,95 Pfund (28,7 Euro) waren die ersten Tage lange im Voraus ausverkauft. Da konnte der linksliberale „Guardian“ meckern: „A view for the few“, die Londoner ließen es sich – wie immer – nicht verdrießen. An (den seltenen) klaren Tagen bietet der Shard den einzigen Gesamtblick über die Grenzen der Megapolis London hinaus. Spektakulärer vielleicht ist noch, wie sich in den 11.000 Glasplatten des Gebäudes die Stadt widerspiegelt: „Der Shard ist wie ein Sensor, der die Stimmung Londons anzeigt“, sagt Architekt Renzo Piano.

Der Traum des Architekten von einer „vertikalen Stadt“ (Piano), in der bis zu 8000 Menschen arbeiten, wohnen und einkaufen, hat sich freilich noch nicht erfüllt. Auch die viel beschworene Regeneration der Gegend um den Bahnhof London Bridge, wo sich der Shard überraschend unauffällig einfügt, bleibt ein Versprechen für die Zukunft. Ein Drittel aller Bewohner bekommt hier Sozialhilfe, die 1500 Arbeitsplätze zum Bau des Gebäudes gingen mit der Fertigstellung großteils verloren. Die Erfüllung mit Leben verläuft vorerst zäh. Bisher sind ein Luxushotel mit 200 Betten und drei Nobelrestaurants fix, der Großteil der 600.000 Quadratmeter Bürofläche ist noch zu haben.

Das hat sowohl mit der hartnäckig anhaltenden Wirtschaftskrise als auch mit dem Wolkenkratzerboom in London zu tun: In zentraler Lage nähern sich prominente Hochhäuser mit Namen wie Cheese Grater (Käsereibe), Quill (Feder) oder Walkie-Talkie der Fertigstellung. Selbst der einst unantastbare Blick auf die St.Paul's Cathedral ist nicht mehr heilig. Den Traditionalisten der „English Heritage“ erteilt Londons Ex-Bürgermeister Ken Livingstone eine deftige Absage: „Zuerst sind sie immer dagegen, zehn Jahre später beantragen sie dann Denkmalschutz.“

Widerlegung Lenins

Der linke Labour-Politiker ist der Vater des Londoner Hochhausbooms. Unter seine Führung (2000 bis 2008) fielen die meisten Baurestriktionen, und die Finanzwelt der City erlebte einen Höhenflug, womit Livingstone auch Lenins Diktum widerlegte: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick liefern, an dem wir sie aufhängen werden.“ In Wirklichkeit war es umgekehrt.

Die Linke gab ihren Segen zu der grenzenlosen Ausweitung des Finanzkapitalismus. Wie ein anderer prominenter Labour-Politiker, Ex-Minister Peter Mandelson, einmal sagte: „Wir haben kein Problem damit, dass Leute obszön reich werden.“ – Dieser Traum ist geplatzt, das schnelle und billige Geld ist versiegt, heute treiben die Konservativen die Schulden der Vorgängerregierung ein. Auch der Shard spiegelt diese Entwicklung: Nachdem die Banken in der Krise ab 2007 reihenweise absprangen, konnte das Gebäude nur dank der Intervention beziehungsweise Investitionen des Emirats Katar fertiggestellt werden. Das ist beispielhaft für die Machtverschiebung der letzten Jahre in der globalen Wirtschaft.

Erst Kirchen, dann Fabrikschlote

Seit dem Turmbau zu Babel gelten in den Himmel ragende Gebäude als Ausdruck der Macht: Zuerst waren es Kirchen, später Fabrikschlote, dann die Glaspaläste der Finanzindustrie. Heute gehören die obersten Plätze den Ölscheichs und Oligarchen, die als Käufer der 50-Millionen-Pfund-Apartments an der Spitze des Shard erwartet werden. Dass die neuen Reichen auch die neuen Mächtigen sind, feiern sie heute mit Oligarchitektur.

Auf einen Blick

Von 2009 bis 2012 wurde der von Renzo Piano entworfene, 310 Meter hohe und mit 11.000 Scheiben komplett verglaste pyramidenförmige Gigant in die Höhe gezogen. Der ursprüngliche Entwurf vom Anfang der 90er hätte noch höher ragen sollen, er stieß aber auf wenig Gegenliebe. Im nun eröffneten Turm befinden sich Büros, Geschäfte, Luxuswohnungen und ein Luxushotel (auf 19 der 87 Etagen). [Reuters]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2013)

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