Kritik

Prestigeprojekt „The Line“ in Saudi-Arabien: Was ist dran an der „Öko-Stadt“?

Die 170 Kilometer lange, verspiegelten Stadt soll sich geradlinig durch die Wüste von Saudi-Arabien ziehen. Eine „lineare Form“ sei aber wenig effizient, kritisieren Wissenschaftler.
Die 170 Kilometer lange, verspiegelten Stadt soll sich geradlinig durch die Wüste von Saudi-Arabien ziehen. Eine „lineare Form“ sei aber wenig effizient, kritisieren Wissenschaftler. Neom
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Neun Millionen Menschen sollen auf 34 Quadratkilometern leben - auf minimalem Fußabdruck. Mit „The Line“ plant Saudi-Arabien eine futuristische Wüstenstadt. Wiener Forscher zerpflücken das Bauvorhaben.

Die von Saudi-Arabien geplante Modellstadt „The Line“ für neun Millionen Einwohner, die sich einmal in gerader Linie über rund 170 Kilometer erstrecken soll, ist alles andere als ein Vorzeigeprojekt, sind Wiener Komplexitätsforscher überzeugt. Große Entfernungen würden die Hälfte der Bevölkerung zu langen Pendelstrecken zwingen, schreiben sie im Fachjournal „npj Urban Sustainability“ und empfehlen stattdessen einen kreisförmigen Aufbau.

„Eine lineare Form ist die am wenigsten effiziente Form einer Stadt. Es gibt einen Grund, warum die Menschheit 50.000 Städte hat, und alle mehr oder weniger rund sind“, betonte Rafael Prieto-Curiel vom Complexity Science Hub (CSH) Vienna, der gemeinsam mit Dániel Kondor kürzlich eine Studie zur Einordnung des Projekts veröffentlicht hat, in einer Aussendung. Laut den Forschern haben die Aushubarbeiten für das Bauprojekt der Superlative inmitten der Wüste im Oktober begonnen. „The Line“ soll aus zwei ununterbrochenen Reihen von Wolkenkratzern bestehen, mit Lebensraum dazwischen, vom Roten Meer 170 Kilometer nach Osten, 200 Meter breit und mit 500 Metern höher als jedes Gebäude in Europa, Afrika und Lateinamerika.

Neun Millionen Menschen sollen auf 34 Quadratkilometern leben - mehr als in jeder anderen Stadt Saudi-Arabiens. Das entspricht einer Bevölkerungsdichte von 265.000 Menschen pro Quadratkilometer - zehnmal dichter als Manhattan und viermal dichter als die inneren Bezirke von Manila, die als die dichtest besiedelten Stadtviertel der Erde gelten. Die Stadt wird also unglaublich lang, extrem hoch und überraschend dicht, so die Forscher.

Minimaler Fußabdruck - ist das möglich?

Eine Schlüsselrolle für den Erfolg von Städten spiele die Mobilität. In vielen Aspekten des Projekts würden eine nachhaltige Herangehensweise und ein minimaler Fußabdruck betont. So soll ein Hochgeschwindigkeitsbahnsystem das Rückgrat des öffentlichen Verkehrs bilden. Die hohe Dichte ermögliche zudem, dass viele Dienstleistungen fußläufig oder per Fahrrad in wenigen Minuten erreichbar seien, weshalb auf Autos verzichtet werden könne, streichen die Planer hervor.

Ein durchaus lobenswertes Ziel, meinen die Forscher. Allerdings würden zwei zufällig ausgewählte Personen in „The Line“ durchschnittlich 57 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Im flächenmäßig 50 Mal größeren Johannesburg seien es hingegen nur 33 Kilometer. Berücksichtigt man eine Gehdistanz von einem Kilometer, leben den Berechnungen nur 1,2 Prozent der Bevölkerung fußläufig voneinander entfernt.

Städte seien zudem mehr als eine Ansammlung von halb isolierten Vierteln, die im Abstand von 15 Minuten nebeneinander liegen. „Was eine Stadt von kleineren Siedlungen unterscheidet, ist nicht nur ihre Größe, sondern vor allem die zusätzlichen Möglichkeiten außerhalb der unmittelbaren Nachbarschaft - wie Konzerte oder eine weitläufige Arbeitssuche. Aus diesem Grund müssen wir den stadtweiten Verkehr berücksichtigen“, gibt Kondor zu bedenken.

Damit alle Menschen eine Station der Hochgeschwindigkeitsbahn in wenigen Gehminuten erreichen könnten, müsse es aber mindestens 86 Stationen geben. Das habe wiederum zur Folge, dass die Züge zwischen zwei Bahnhöfen keine hohen Geschwindigkeiten erreichen. Eine Fahrt würde daher im Durchschnitt 60 Minuten dauern, mindestens 47 Prozent der Bevölkerung müssten sogar noch länger pendeln. Die Menschen wären jedenfalls länger unterwegs als in vielen anderen Großstädten.

„The Circle“ statt „The Line“

Vorteilhafter wäre die Stadt kreisförmig aufzubauen - also „The Circle“ statt „The Line“. Würde man für diese Alternativvariante die gleiche Fläche von 34 Quadratkilometern vorsehen, hätte der Kreis einen Radius von nur 3,3 Kilometern. Die durchschnittliche Entfernung zwischen zwei Personen würde 2,9 Kilometer betragen. Rund ein Viertel der Bevölkerung (24 Prozent) wäre einen Kilometer voneinander entfernt, 66 Prozent innerhalb von zwei Kilometern. Das würde ein Hochgeschwindigkeitsbahnsystem überflüssig machen, da die meisten Orte zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sind. Der Rest könne mit Bussen versorgt werden.

Eine runde Stadtform sei die am wünschenswerteste, da sie die Pendlerentfernungen verkürze und den Energiebedarf für den Transport reduziere. „The Line“ dürfte also eher Werbegag als Öko-Stadt der Zukunft sein: „Insgesamt gesehen liegt die Vermutung nahe, dass andere Erwägungen bei der Wahl dieser einzigartigen Form eine Rolle gespielt haben könnten, wie zum Beispiel das Branding oder die Erstellung ansprechender Videos in den sozialen Medien“, so Prieto-Curiel. (APA)

>> Veröffentlichung im „npj Urban Sustainability“

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