175 Jahre „Die Presse“

Herr Biedermeier beginnt zu politisieren

Journalismus 1848. Revolution, Umsturzideen. Es gab viele Zeitungsgründungen und wenig journalistische Erfahrung. Doch alle Schreiber wollten Politik machen.

Geht das überhaupt? Eine Bevölkerung, die sich in die Privatsphäre zurückgezogen hat und persönliche Ideale wie Familienglück, Naturverbundenheit und Kunstgenuss pflegt, plötzlich für das politische Geschehen zu interessieren? Sie aus der kleinbürgerlichen Behaglichkeit herauszureißen und ihr täglich ein Blatt, das vollgestopft ist mit den aktuellen politischen Nachrichten, auf die Fußmatte zu legen?

Es ist nicht schwer zu erraten, wovon hier die Rede ist: Vom gemütlichen Herrn Biedermeier, der sich in der Restaurationsära des Kanzlers Metternich wohnlich eingerichtet hat, und der Revolution, die sich 1848 auch in der Publizistik vollzog. Nicht, dass man den Journalismus in Wien ganz neu hätte erfinden müssen, es wurde viel geschrieben und viel gelesen. Es gab unterhaltende Blättchen wie Adolf Bäuerles „Theaterzeitung“, sie lieferte seichte Klatschgeschichten, berichtete über Mode, Theaterpremieren und Stadtneuigkeiten. Das gefiel auch der Obrigkeit. Meist boten die Blätter eine bunte Mischung von politischen Nachrichten (nicht zu viele), Gedichten, Geschichtchen, Theaterprogramm, Lottozahlen und vielen Annoncen.

Zeitungen lagen im Interesse von Druckern: Sie hatten die Idee, das Nachrichtenmaterial, das gleichsam auf der Straße lag, unter die Leute zu bringen – um Gewinne zu machen. Sie lagen aber noch viel mehr im Interesse der Staatsmacht, die durch eine gelenkte Informationspolitik über ein Instrumentarium verfügte, mit dem sie ihre Interessen wahren konnte. Zeitungen waren für die Veröffentlichung des obersten Willens sehr gut geeignet, doch waren sie schwerer zu kontrollieren als Bücher: Der stete Aktualitätsbezug, die knappen Abstände und dazu noch der fatale Hang zur politischen Ausrichtung, zur Mitwisserschaft an staatspolitischen Entscheidungen, erregten Misstrauen und erforderten ein penibles Zensursystem.

Vormärzpresse: Zwischen Zensur und Klatsch

„Lob der lächerlichsten Regierungsmaßnahmen, Vergötterung alles dessen, was vom Hofe kam, einen Orden trug oder vom Adel war; Geringschätzung ausländischer Institutionen und bornierte Zufriedenheit mit allem in Österreich Bestehenden, gänzlicher Mangel an politischem Sinn und Bedürfnis, dafür leidenschaftliches Interesse für Opern, Possen, Wettrennen, Walzer, Virtuosen und Juristenbälle.“ Es klang nach Verbitterung, was der Musikkritiker Eduard Hanslick da über die Vormärzpresse herausfauchte. Die Intellektuellen unter den Journalisten wollten nicht mehr als die „nur um Futter schreibenden und zusammenstoppelnden Skribler und Sudler“, denen man die Flausen austreiben müsse, beschimpft werden.

Es begann zu brodeln. Man brauchte sich ja nur die ausländischen Schriften, die an der Zensur vorbei ins Land geschmuggelt wurden, anzuschauen. Da sah man, was an Freiheit des Denkens und Formulierens möglich war. Die Neugier nach Nachrichten war nämlich groß. Nur fand man nirgends eine Reflexion oder Analyse der politischen Lage. Indem die Staatsspitze versuchte, eine regierungskonforme Presselandschaft aufzubauen, anerkannte sie eigentlich das legitime Interesse der Öffentlichkeit, am politischen Prozess teilzuhaben. So wurde die als Stütze politischer Stabilität gedachte Polizei- und Zensurhofstelle zum Ferment eines politischen Gärungsprozesses.

Die Wiener Intelligenz, zu der auch die Journalisten zählten, begann sich zu regen. In den Wiener Theatern wurde jede Anspielung auf Freiheit beklatscht, eine Schriftstellerpetition vom 11. März 1845, die die Zensur kritisierte, wurde von einem Autor unterzeichnet, dem man Loyalität gegenüber dem Staat wirklich nicht absprechen konnte – von Franz Grillparzer. Er gehörte zu jener innerlich zerrissenen Schicht bürgerlicher Intellektueller, die sich einerseits zur Notwendigkeit der Zensur bekannten, angesichts der sich anbahnenden Umwälzungen ihre Begeisterung aber kaum zügeln konnten. „Die Pressfreiheit ist ein scharfes Schwert, lasst es uns nur ziehen, wenn die Not es erscheischt“, so der Staatsdiener Grillparzer.

Dann kam der März 1848, bürgerliche Unzufriedenheit mit der regierenden Klasse, Bauernunmut, studentischer Zorn und Arbeiterrevolte entluden sich, Österreich hatte seine Revolution. Sie unterschied sich gar nicht so sehr von den Aufständen in anderen europäischen Hauptstädten. Politik sollte zur öffentlichen Angelegenheit, eine Bürgergesellschaft konstituiert werden. Die Zeitungen trieben das voran. Metternichs Rücktritt beendete nämlich die Ära des Zensur- und Polizeiwesens, die Forderungen nach Rede- und Pressefreiheit fanden endlich Gehör. Noch im März erschien in der früher so harmlosen „Theaterzeitung“ die Lithografie „Auferstehung der Presse und Begräbnis der Censur“, der Karikaturist Cajetan lieferte gleich die Interpretation dazu: „Die Presse ist frei – gesprengt sind ihre Fesseln, stolz erhebt sich der Nacken!“

Die Begeisterung über die neue Freiheit führte zu einer Flut von Publikationen – Flugblättern Plakaten, Zeitungen. Alle rühmten sich ihres reißenden Absatzes; addiert man die kolportierten Auflagenzahlen, müssten die Wiener 1848 eigentlich nichts anderes gemacht haben, als Flugschriften und Zeitungen zu lesen. Bis zu 300 verschiedene Presseerzeugnisse sollen in der neuen, der zensurfreien Zeit 1848 insgesamt erschienen sein, viele davon „Eintagsfliegen“, manche erschienen nur eine Woche lang, viele erregten auch Anstoß. Höflichkeit war nicht die Sache der von der Repression befreiten Publizisten.

Eine Flut von Publikationen

Sarkasmus, Ironie, Spott, deftige Karikaturen ließen niemanden ungeschoren, nicht Polizei, nicht Beamte, nicht einmal den Kaiser. Den meisten Schreibern fehlte jede journalistische Erfahrung, ihre Blätter waren von niedrigem Niveau. Recherchieren war ein Fremdwort. Doch alle wollten Politik machen, die Radikaleren setzten sich in scharfem Ton für einen vollständigen politischen Umsturz ein. Doch was war mit der bürgerlichen Mitte? Sie wartete auf eine Zeitung wie „Die Presse“.

Zeitungsmarkt 1848

Bis zu 300 verschiedene Zeitungen erscheinen 1848, nur eine dieser Neugründungen gibt es auch 2023 noch.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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