Liberal betrachtet

Der Landrabbiner von Galizien und seine zahlreichen Feinde

Arjeh Leib Bernstein wurde wegen Korruption verfolgt. Verurteilt wurden aber schließlich jene, die ihn angezeigt hatten.

Die lebhaften Reaktionen auf die letzte Kolumne ermuntern mich zu folgender Zugabe: Als mit der ersten polnischen Teilung 1772 rund 250.000 Juden in das Habsburgerreich eingegliedert wurden, stand das Land nicht nur vor konfessionellen, sondern auch vor steuerlichen Herausforderungen. Die sogenannte Theresianische Judenordnung vom Juli 1776 sollte bei weitgehender Belassung der Autonomie der galizischen Judengemeinden dieser Fragen Herr werden. An der Spitze der neugeschaffenen galizischen Judengeneraldirektion sollte ein Landrabbiner mit weitreichenden Befugnissen stehen.

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Der erste Anwärter war der Rabbi von Prag, Ezekiel Landau. Ihn ließ die eigene Gemeinde allerdings nicht ziehen. So kam 1778 der zweitgereihte Kandidat, Arjeh Leib Bernstein, als Landrabbiner zum Zug. Er wurde 1708 in Brody geboren und stammte von mehreren Rabbinerfamilien ab. Der bekannte Rabbi Abraham Joshua Heschel von Krakau (1596–1663) war sein Urururgroßvater. Bernstein hatte sich schon vor seiner Wahl zum Landrabbiner von Galizien viel um die wirtschaftliche Entwicklung gekümmert. Brody lag verkehrsmäßig sehr günstig und unterhielt ausgezeichnete Handelsbeziehungen zu Russland, Deutschland und England, aber auch zur Türkei.

Bernstein soll einer der reichsten Geschäftsleute von Brody gewesen sein. Die Wahl in das neue Amt dürfte dieser Vorliebe keinen Abbruch getan haben. Sein Wohlstand stieg, aber auch die Zahl seiner Feinde. Letzteres hatte seinen Grund auch darin, dass der Landrabbiner der oberste Steuereintreiber war.

Ein paar dieser Feinde wandten sich schließlich 1784 mit einer Beschwerde an die Zentralregierung in Wien und forderten die Amtsenthebung des Landrabbiners: Er sei korruptionsanfällig, nehme Geschenke an und erpresse Geld von verschiedenen Personen.

Im Laufe der Untersuchung kam die Kommission 1786 zur Überzeugung, dass die Beschwerden von persönlichen Motiven getragen worden seien. Die Korruptions- und Bestechlichkeitsvorwürfe seien allesamt unrichtig. Nicht der Landrabbiner wurde schließlich bestraft, sondern die Verleumder mit jeweils 14 Tagen Gefängnis.

Bernstein ging zwar siegreich aus dieser Konfrontation hervor, musste das Amt des Landrabbiners aber bald abgeben. Es wurde nicht mehr nachbesetzt. Er selbst widmete sich noch ein paar Geschäften, starb 1788 und wurde standesgemäß in der aristokratischen Sektion des Friedhofs von Brody begraben.

In den Galizien-Protokollbüchern des Staatsarchivs sind die handgeschriebenen Einträge dieses Korruptionsverfahrens aus den Jahren 1784 und 1786 heute noch nachlesbar. Der Mitarbeiter des Staatsarchivs, der mir die Protokolle aushändigte, meinte, dass ich Glück hätte: Diese Bände waren dem Brand des Justizpalastes im Jahr 1927 nicht zum Opfer gefallen.

Leib Bernstein hatte fünf Kinder und könnte Tausende Nachkommen haben. Viele hat es im Laufe der Zeit nach Wien verschlagen. Darunter befinden sich Unternehmer, Banker, Fabrikanten, Besitzer eines berühmten Hotels sowie sonstiger Häuser am Wiener Ring, eine Mäzenin, die erste Doktorandin der Staatswissenschaften, ein Begründer der Psychoanalyse, ein bravouröser Opernkritiker und ein kolumnenschreibender Anwalt.

Der Autor

Dr. Georg Vetter (*1962) ist Anwalt und Präsident des Clubs Unabhängiger Liberaler. Er war Mitglied des Teams Stronach, wechselte 2015 in den ÖVP-Parlamentsklub und schied 2017 endgültig aus dem Nationalrat aus. E-Mails an: debatte@diepresse.com

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